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Von Fortschritten und Rückschlägen

Karl vom Ebbe erkundet das Märkische Sauerland von heute


1996 war er das letzte Mal aufgetreten: Karl vom Ebbe oder Kaal vam Ebbe, die von Fritz Sträter geschaffene Kunstfigur: Konzipiert und zum Leben erweckt als Original und wohlwollend kritischer Geist aus dem Märkischen Sauerland, das sich stets im sauerländisch-märkischen Platt äußerte. Karl, ein bäuerlicher Typ mit Backenbart und Pfeife, blauem Kittel und Kiepe, trat erstmals 1960 auf dem Schützenfest in Meinerzhagen in Erscheinung.

Damals zunächst verkörpert von Wilhelm Vogel, gab er ein paar Dönekes mit Bezug zur Meinerzhagener Lokalpolitik zum Besten. Später schlüpfte der Autor selbst in die Rolle des Karl vom Ebbe, zum letzten Mal 1996 bei der Eröffnung des Denkmals, das ihm in Meinerzhagen errichtet worden war.

Mehr als 25 Jahre später schicken wir ihn mit seiner Kiepe noch einmal für ein paar Tage durchs Märkische Sauerland. Er macht dabei viele Entdeckungen, die Themen seiner liebevoll-ironischen Kommentare zur Heimat werden könnten. Und ihn trifft eine Erkenntnis.


Karl vom Ebbe – so erdachte ihn sein Erfinder Fritz Sträter – war ein Kleinbauer aus dem Ebbegebirge, arbeitsam und viel unterwegs, mit seiner Kiepe auf dem Rücken. Wie das Kiepenlisettken hielt er den einen oder anderen Schnack mit den Leuten, war immer gut informiert und hatte eine Meinung zu den Dingen, die um ihn herum passierten. 

Geboren um die Jahrhundertwende, kommentierte er humorvoll und mit Augenzwinkern das politische wie gesellschaftliche Geschehen seiner Heimat Meinerzhagen, kurz Meinerzen. Gerne legte er dabei auf mal einen Finger in die Wunde. Nachdem er sich seit 1996 nicht mehr geäußert hat, lassen wir ihn heute nochmal eine Tour durchs Märkische Sauerland machen. 

Karls ursprüngliche Heimat, die Nordhelle im Ebbegebirge

Das Ebbegebirge kennt Karl vom Ebbe wie seine Westentasche. In unmittelbarer Nachbarschaft zu den Hängen mit ihren dichten Wäldern wurde er geboren. Dort wohnte, lebte und arbeitete er, wenn er nicht gerade unterwegs war. In jungen Jahren fand er seinen Weg über den Ebbekamm blind. Das musste er auch, denn durch die dichten Wipfel drang kaum Tageslicht. Doch den Orkan Wiebke und die vorhergehenden Stürme erlebte er Anfang 1990 selbst noch. Sie hinterließen auf seiner Nordhelle deutliche Spuren. 

Im Spätsommer 2023 macht sich Karl vom Ebbe also von seiner Hütte unweit der Nordhelle aus auf den Weg. Frohgemut wandert er los, die Kiepe auf dem Rücken, die Pfeife im Mund. Zunächst freut er sich, wie schön sich der Wald in damaligen Sturmzonen regeneriert hat. Doch schon bald stockt ihm der Atem. Denn wo früher dichter Fichtenwald stand, kann er heute bis nach Herscheid blicken.

Auf weiten Flächen stehen nur noch einzelne Bäume, sind die Stämme abgeholzt und liegen Baumstämme herum. Über dem Wald hängt das Geräusch von Motorsägen und schwerem Gerät. Er begegnet einem Förster, der ihm von den Orkanen der letzten Jahrzehnte berichtet – Lothar, Kyrill, Friederike, Sabine und wie sie alle hießen –, von der Trockenheit der letzten Jahre und vom Borkenkäfer. All das habe dem Wald sehr zugesetzt. 

Karl nickt traurig, dann hebt er seine Mütze, grüßt und folgt dem Waldweg, der ihm heute wie ein Panoramaweg vorkommt. „Borkenkäfer?“, denkt er. „Hatte der nicht schon Ende der 1980er Jahre Probleme bereitet?“ Er schüttelt den Kopf und nimmt sich vor, sich genauer mit dem Thema zu befassen. Doch dann stutzt er, weil in einem entfernten Tal plötzlich ein See schimmert. Sollte das etwa die Oestertalsperre sein? Das wird er mal aus der Nähe angucken. 



Entdeckung an der Oestertalsperre

Noch während des Abstiegs wird ihm klar: Es ist tatsächlich die Oestertalsperre. Was auch sonst? Der Stausee hatte ganz früher einmal hauptsächlich die regelmäßige Wasserzufuhr für die unterhalb liegenden Schmieden und Kleinindustriebetriebe garantiert. Er kannte ihn fast sein ganzes Leben, doch meistens war der See in den Wäldern besser versteckt als heute. Er erinnert sich, dass man den Brauchwasserspeicher auch nutzte, um den Wasserstand der Ruhr zu regeln. 

Als er näher kommt, staunt er nicht schlecht. Nicht über den Campingplatz, nein, den kannte er schon. Auch nicht darüber, dass es Badegäste gibt. Ihn überraschen die Menschen, die auf Brettern über das Wasser paddeln. Er kennt Kähne, Boote und Kanus, aber diese Bretter kennt er nicht. Ungefähr auf mittlerer Höhe des Stausees, nimmt er die Kiepe ab, setzt er sich unter einen Baum und beobachtet das Treiben am und auf dem Wasser. Wieder hebt er seine Kappe und kratzt sich am Kopf. Warm ist ihm in seinem dunklen Kittel. Vielleicht sollte er selbst eine kleine Abkühlung wagen. 

Geschwind zieht er die schweren Schuhe aus, krempelt sich die Hose hoch und stapft, noch immer die Pfeife im Mund, zum Ufer und einige Schritte ins Wasser hinein. Ah! Das tut gut, obwohl er die vielen kleinen Wasserläufe und Bäche im Märkischen Sauerland meist noch erfrischender findet. Grinsend beobachtet er, wie einige Jugendliche sich mit den Brettern aufs Wasser begeben, es scheint so eine Art Kursus zu sein. Um seine Augen verteilt sich ein fröhlicher Faltenkranz. 

Scheint gar nicht so einfach, denn die Kinder beginnen kniend zu paddeln. Und trotzdem platscht es immer wieder, weil jemand ins Wasser fällt. Er fragt einen Jungen am Wasser, wie sich dieses Brett nennt. Der sieht ihn merkwürdig an, antwortet aber: „SUP.“ Das klingt wie der Name einer Partei, denkt Karl. „Eine Abkürzung?“, fragt er. „Wofür?“ „Stand-up-Paddling“, sagt der Junge. „Danke“, sagt Karl, nickt dem Jungen freundlich zu und denkt: „Sehr originell, Paddeln im Stehen.“ Ihn erinnert das eher an Einbäume und damit eine sehr frühe Form der Fortbewegung auf dem Wasser.  

Da hätte er seinen Zuhörern etwas zu berichten! Doch wer weiß? Vielleicht vergnügen sich in den heutigen Generationen mehr Leute mit SUP, als er denkt. Es sieht immerhin nach einem tollen Freizeitvergnügen aus. „Freizeit“, denkt er. „Davon habe ich selbst immer viel zu wenig gekostet.“ Doch er freut sich für die jungen Leute. Und wenn er mit einem dieser Bretter alleine hier wäre, würde er den Spaß glatt mal ausprobieren. Aber jetzt hat er genug gesehen, er wird noch ein paar Kilometer in Richtung Plettenberg weitergehen, sich einen Platz zum Schlafen suchen und morgen die nächste Etappe wandern.




Von Plettenberg nach Affeln

Am Hestenberg findet er schließlich ein Plätzchen im Grünen, nicht weit von der früheren Trasse der Bahnstrecke Plettenberg – Herscheid.  Schön gelegen, auch wenn der Verkehr im Tal permanent rauscht. Am nächsten Morgen wäscht er sich an einem Bachlauf und erinnert sich daran, dass die früheren Gleise bereits im letzten Jahrhundert abgebaut wurden. Heute verläuft dort ein gepflegter Waldweg. Der ehemalige Haltepunkt ist inzwischen schick renoviert – in Rosa – und in ein Café umgewandelt worden. Einen Moment überlegt er, dort einen Kaffee zu trinken. Doch er entscheidet sich dagegen und geht durch den Wald – auf der Strecke, wo früher die Bahn fuhr. 

Dort erwarten ihn weitere Überraschungen. Unter ihm wurde offenbar ein Tunnel in den Berg gebaut, denn die rauschenden Autos verschwinden, ohne das Tempo zu drosseln, im Berg. Oben auf dem Weg sieht er große Tafeln mit Gemälden. „Plettenberger Kunstpfad“, liest er, auch eine interessante Geschichte für seine Zuhörer: eine Galerie mitten im Wald! Er geht weiter und schlägt sich bald darauf durch die Büsche. Er hat sich entschlossen, die Pfarrkirche St. Lambertus in Affeln zur nächsten Station zu machen. Dazu will er runter zur Lenne und auf der anderen Seite wieder rauf. Mal sehen, was sich dort verändert hat.

Kersmecke lässt er links liegen, nimmt die alte Brücke über den Fluss und merkt bald, dass er sich viel vorgenommen hat, schließlich ist er nicht mehr der Jüngste. Mit ordentlichen Steigungen hat er es zu tun, sogar die Autos fahren die schlangenförmige Straße langsam hinauf. Das liegt jedoch auch am Tempolimit. Karl versucht es mit Abkürzungen querfeldein. Je höher er kommt, desto kahler die Umgebung, denn der Wald hat auch hier gelitten. Schatten muss er suchen. Einmal macht er Rast, nimmt sich Brot und Speck aus der Kiepe. Dazu ein Bier, nicht mehr ganz taufrisch. Immer wieder wischt er sich die Stirn mit seinem Halstuch. So steil hatte er die Route nicht in Erinnerung, doch auf halbem Wege wird er nicht kehrtmachen. 

Zwei Stunden später hat er es geschafft, steht vor der romanischen Kirche mit ihrer Welschen Haube auf dem Turm. Erleichtert ist er, denn es scheint alles beim Alten: Das kleine dreischiffige Langhaus mit Rundbogenfenstern aus Bruchstein, im Osten abgeschlossen durch die Apsis. Der verputzte, helle Turm im Westen. Stimmt nicht ganz, stellt er fest, als er durch das Tor im Turm eintritt. Zwar ist es hier schön kühl, doch ein festes Gitter hindert ihn, das Kirchenschiff zu betreten. Den berühmten flandrischen Barockaltar kann er daher nur aus der Ferne begrüßen. Etwas enttäuscht lehnt er den Kopf ans Eisen. 


Richtung Neuenrade …

Bald verlässt er die Kirche wieder und beschließt, im Kirchhof auf einem Mäuerchen im Schatten ein Nickerchen einzulegen. Wenig später weckt ihn eine alte Frau. Sie habe gesehen, dass er in die Kirche ging, sagt sie. Und lädt ihn ein, freitags die Früh- oder samstags die Vorabendmesse zu besuchen. Zur Besichtigung sei St. Lambertus nur selten geöffnet. Karl nickt, bedankt sich für die Auskunft und gähnt verstohlen. 

Die Frau fragt ihn nach seiner Wanderung, sie habe schon sehr lange niemanden mehr mit Kiepe über die Dörfer ziehen sehen. Er stellt sich vor und berichtet von seinem Wunsch, zu sehen, was sich in seiner Heimat in den letzten 25 Jahren verändert hat. Lächelnd sagt sie, sie erinnere sich an ihn. Dann wiegt sie den Kopf und gibt ihm den Tipp, in Küntrop in der Dinneike die Augen offenzuhalten und in Balve-Wocklum die Luisenhütte zu besuchen. Er überlegt. Der Neuenrader Stadtteil Küntrop wäre zwar ein kleiner Umweg, aber leicht zu machen. Er braucht nur bergab der Straße zu folgen. Balve und Wocklum liegen ohnehin in der Richtung, die er einschlagen wollte.

Die alte Frau hatte es spannend gemacht. Er weiß nicht, was ihn erwartet. Doch er war schon immer bereit, sich überraschen zu lassen. Und so entdeckt er in Neuenrade-Küntrop einen ungewöhnlichen Holzbau, den er noch nicht kannte. Die Küntroper Motte ist auf einem Transparent an der Wand zu lesen. Als Untertitel Idealtypisches Modell einer spätmittelalterlichen Turmhügelburg. „Aha“, denkt sich Karl. „Motte, was für ein lustiger Name. Und wie kommt die hierhin?“ Er geht einmal um den Bau herum, drückt die Klinke der Tür – verschlossen. Ausgegraben wurde sie sicher nicht, denn er erinnert sich, dass man ganz in der Nähe Reste eines alten Burggrabens gefunden hatte und Teile des alten Fundaments von Burg Gevern. Mehr aber auch nicht.

Er lässt sich auf einem der Steine nieder, die vor dem Holzbau in einem Halbrund um ein paar in den Boden eingelassene Schilder und Waffen angeordnet sind. Auch das sehr lustig! Was es mit dieser Motte auf sich hat, muss er jedenfalls auch noch genauer herausfinden. Er setzt die Kiepe ab, holt ein schwarzes Büchlein mit Bleistift heraus und macht sich unter Wald Nordhelle, SUP Oestertalsperre Einbaum!, Rosa Café Haltepunkt, Hestenberg-Tunnel, Plettenberger Kunstpfad und St. Lambertus? eine weitere Notiz: Nachtfalter Küntrop

Wie schade, dass die Motte geschlossen ist. Mit ein paar eisernen Sprossen an der Außenwand und einer Falltür in der Plattform, könnte man wenigstens spontan hinaufklettern und die Aussicht ins Hönnetal genießen, die bestimmt ganz wunderbar ist. Doch er wird die Besichtigung nachholen. Zwischen Ostern und Oktober ist sie jeden ersten Sonntag im Monat geöffnet, stand an der Tür der Motte. Jetzt rastet er erstmal, dann schaut er sich die nächste Etappe auf seiner Karte an. Den Weg bis Wocklum wird er heute noch gut schaffen. Und eine Idee für den nächsten Schlafplatz hat er auch schon. 



… und Balve-Wocklum

Frisch gestärkt schwingt er seine Kiepe auf den Rücken und geht in Richtung Hönne und Bahngleise. Angesichts der Wärme hat er beschlossen, einen Teil der Strecke mit der Hönnetalbahn zurückzulegen. Hoffentlich muss er nicht zu lange warten. Doch hat er hat Glück, tatsächlich kommt bald ein Zug, die stündlich fahrende RB54. Er steigt ein und beschließt, vom Haltepunkt Sanssouci aus das Stück bis nach Wocklum zurückzugehen. Er weiß genau, wo die Luisenhütte liegt. An der Kurve, die zum Schloss führt, wo rechts die Sägemühle liegt, biegt er in die kleine Straße nach rechts ein. „Asphaltiert ist sie, guck an“, sagt er sich.

Von hier ist es nicht mehr weit, knapp 500 Meter. Er kommt an einem kleinen Parkplatz und einem erstaunlich großen Spielplatz vorbei. Letzterer hat sogar einen Namen: Kleine Luise. Man scheint sich auf größere Besucherzahlen eingestellt zu haben. Als sich der Weg öffnet und er links ein großes Gebäude entdeckt, staunt er nicht schlecht! „Donnerlittchen“, denkt er. Die Luisenhütte, im letzten Jahrhundert noch ziemlich verfallen, ist wieder aufgebaut. Karl besorgt sich eine Eintrittskarte und geht hinein. Er sieht den Hochofen in der Gießhalle. Er geht in die Abstichhalle und ins Gebläsehaus

Dann geht er über die steile Rampe auf den Möllerboden, wo der Hochofen bestückt wurde und wieder herunter durch das ganze Gebäude. Manches Mal wird es dabei ganz schön eng mit seiner Kiepe. Schwer beeindruckt betrachtet es draußen noch den Hüttenteich. Tatsächlich sieht es so aus, als könnte die Hütte jederzeit wieder in Betrieb gehen! Er nickt zufrieden. Dieser Besuch hat sich gelohnt! 

Schnell trinkt er noch ein kühles Bier im benachbarten Gasthaus, dann steigt er den Burgberg hinauf. Dort muss eine alte Wallburg sein, wo er sich zum Schlafen legen will. Nachdem er die historische Stätte gefunden hat, macht er es sich zwischen deren Wällen bequem und ist froh über den interessanten Tag. Er zückt sein Buch und macht sich Notizen, freut sich schon jetzt darauf, seinen Zuhörern spannende Geschichten zu erzählen. Am nächsten Tag will er noch nach Altena gehen und die Burg besuchen. 



Überraschung in Altena

Gleich frühmorgens marschiert er in Richtung Südwesten. Er wählt Strecken quer über die Berge, geht streckenweise auf nummerierten Wanderwegen, die er auch auf seiner Karte findet. Zum Schluss landet er auf einem Abschnitt des Sauerland Höhenflugs, der ihn bis zur Burg Altena führt. Manche dieser Wege, die heute dem Freizeitvergnügen dienen, wurden in seinen jüngeren Jahren, noch für Transporte genutzt. Doch wie immer freut er sich, dass das Leben heute nicht mehr so beschwerlich ist und sich Menschen aller Generationen erholsame Stunden gönnen können.

An der Burg Altena hat sich kaum etwas geändert, nur ein moderner Anbau scheint neu zu sein. Er gehört zur Jugendherberge, wie sich herausstellt. Wie früher geht er durch den unteren Burghof bis in den oberen Burghof, bewundert die starken Mauern, den Bergfried und den Pulverturm. Doch dann lässt ihn etwas stutzen, denn im oberen Burghof ist ein Bereich abgesperrt. Plötzlich taucht dahinter eine fröhliche Menschengruppe auf, Erwachsene und Kinder. „Was ist das?“, fragt Karl einen von ihnen. Der Erlebnisaufzug zur Burg Altena, antwortet der junge Mann. 

 


„Was ist denn ein Erlebnisaufzug?“. fragt Karl weiter. „Im Fahrstuhl, der einen übrigens innerhalb kürzester Zeit auf die Burg bringt, werden Geschichten über die Burg erzählt“, sagt der Familienvater. „Außerdem fährt der Aufzug mitten durch den Berg.“ „Mitten durch den Berg!“, wiederholt Karl voller Ehrfurcht. Sein Gegenüber nickt und verabschiedet sich, seine Familie erwarte ihn. 

Karl tritt näher an die Absperrung. Ein Uniformierter fragt nach seinem Ticket. Karl schüttelt den Kopf, habe er nicht. Aber er sei Karl vom Ebbe und gerade auf einer Recherche-Wanderung. „Karl vom Ebbe?“, fragt der Mann und mustert ihn von oben bis unten. „Den gibt es doch gar nicht!“ Woraufhin dieser die Hände in die Hüften stemmt und ihn auffordert, genauer hinzusehen. Wer liefe schließlich heute noch mit einer Kiepe auf dem Rücken durch die Gegend, wenn nicht Karl vom Ebbe.

Der Kontrolleur zögert, lässt den Blick über den oberen Burghof schweifen und winkt ihn dann mit dem Kopf hinter die Schranke. „Gehen Sie schon rein“, knurrt er. Doch Karl schüttelt den Kopf. „Ich will ja nur gucken“, sagt er und schaut sich den Aufzug an, der gerade wieder neue Gäste gebracht hat. „Und der geht durch den Berg?“, fragt er. „90 Meter“, sagt der andere nickend. Karl schüttelt erneut den Kopf. 

„Danke, runter gehe ich lieber zu Fuß“, sagt er und tritt durch die Schranke wieder in den Burghof. „Noch tragen mich meine Füße“, denkt er sich. „Aber beim nächsten Mal fahre ich rauf!“ Er wandert den Panoramaweg hinab, genießt den Blick auf die Stadt. Doch so langsam wird er tatsächlich etwas müde. Er gähnt und kratzt sich am Kopf. Bis nach Meinerzhagen schafft er es zu Fuß heute sicher nicht mehr. Doch ihm kommt eine Idee. Es fährt doch sicher ein Bus nach Lüdenscheid, oder sogar nach Lüdenscheid-Brügge. Und von dort nimmt er die Bahn nach Meinerzhagen. 
 



Rückkehr zur Gemächlichkeit

Sehr angetan von diesem Gedanken geht Karl weiter zum Markaner. Tatsächlich: Die Linie 37 kann ihn nach Lüdenscheid bringen. Er steigt ein, kapert einen Doppelsitz und stellt die Kiepe ab. Der Bus macht sich auf den Weg, fährt die Lüdenscheider Straße, biegt bald ab in Richtung Rahmede. Der Verkehr staut sich, das Schunkeln und das monotone Geräusch schläfern Karl ein, doch immer wieder schreckt er hoch. Mühlenrahmede, Altroggenrahmede, Dünnebrett. Er blinzelt, wobei ihm wieder freie Flächen an den Hängen ins Auge fallen. 

„Stürme, Hitze, Borkenkäfer“, denkt er. Dann plötzlich reibt er sich die Augen. Das kann doch nicht sein! Da … Da fehlt doch was. Er schaut sich um. Ja, ganz sicher. Hier müsste eine Brücke stehen, die Autobahnbrücke über das Rahmedetal. Doch nach oben hat er freie Sicht. „Wo ist die Brücke?“, fragt er die junge Frau auf dem benachbarten Platz. „Gesprengt“, antwortet die lapidar. „Gesprengt?“, fragt Karl. „Warum?“ „Kaputt“, sagt die Frau. 

„Und was ist mit der Autobahn?“, hakt er nach. Die A45, vor mehr als 50 Jahren Zankapfel und Stolz der Region zugleich. Anschluss an die weite Welt, oder zumindest nach Nord- und Süddeutschland, nach Frankfurt! „Unterbrochen“, sagt die Frau, deutet dabei nach links und rechts. „Zwischen Lüdenscheid Nord und Lüdenscheid.“ „Nein!“, sagt Karl. „Doch“, sagt sie. Seit Dezember 2021 ist dort kein Auto mehr gefahren. 

Karl erinnert sich an seine launigen Vorträge zur Sauerlandlinie, die 1968 bis Lüdenscheid-Nord und 1971 bis Freudenberg – und somit auch bis zu seinem Heimatort Meinerzhagen – eröffnet worden war. Damals war Valbert in der Beschilderung ab der Autobahn nicht mehr vorgekommen. Doch davon unabhängig hatte die Autobahn auf den gigantischen Stelzen der Talbrücken allen plötzlich rasante Geschwindigkeiten über die Berge erlaubt – auch zwischen dem Norden und dem Süden des Kreises. 

Und jetzt hat die marode Rahmedetalbrücke der Schnelligkeit ein Ende setzt? Und die Gemächlichkeit ins Märkischen Sauerland zurückgebracht? Mein lieber Scholli. Im Vorbeifahren sieht er, wie Trümmer der Brücke von Lastwagen abtransportiert werden. Eine Steilvorlage, denkt er und nimmt sein Büchlein aus der Kiepe. Unter Erlebnisaufzug Burg Altena setzt er Rahmedetalbrücke. Es gibt einiges zu behandeln und zu berichten. Das steht schon fest.  



A45 hin oder her

Sie fehlt uns allen – die Rahmedetalbrücke und die Verbindung, die sie zwischen den A45-Anschlussstellen Lüdenscheid Nord und Lüdenscheid schaffte. Vor allem wegen der herausfordernden Verkehrslage im Westen des Kreises freuen wir uns darauf, dass es die Brücke in einiger Zeit wieder geben wird. Da die Fortschritte nicht in unserer Hand liegen, machen wir bis dahin das Beste daraus:

Denn es gibt völlig unabhängig von der Brücke 45 gute Gründe für deinen Familienausflug oder deinen Kurzurlaub, für eine Wanderung, eine Radtour oder eine Trekking-Tour in unserem schönen Märkischen Sauerland. 

Schau sie dir unbedingt genauer an!
 

45 gute Gründe


PS: Bei den Reparaturen der durch das Juli-Hochwasser 2021 schwer beschädigten Strecke der Volmetalbahn zwischen Hagen und Meinerzhagen gibt es große Fortschritte



Per Bahn nach Meinerzhagen

Noch immer in Gedanken versunken, erreicht er den ZOB in Lüdenscheid, schwingt seine Kiepe auf den Rücken und steigt in die Linie 58 um, die ihn zum Bahnhof Lüdenscheid-Brügge bringen wird. Dort angekommen, steht der Zug bereits am Gleis, ist aber noch nicht für den Zustieg geöffnet. Karl wundert sich über die Aushänge zum Schienenersatzverkehr. Alle Bahnsignale gen Norden leuchten Knallrot. Neugierig spricht er einen ebenfalls am Gleis wartenden Wanderer an, was da los sei. Die Strecke sei gesperrt, erfährt er. Bereits seit zwei Jahren. Da habe die Volme bei einem starken Hochwasser im Juli 2021 zwischen Hagen und Brügge Böschungen, Bahndämme und Gleise zerstört. „Ein Hochwasser?“, fragt Karl. „Durch meinen Lieblingsfluss Volme? Im schönen Volmetal?“

„Oh ja, tagelanger Starkregen hatte dazu geführt“, antwortet der Wanderer. „Die Volme konnte das viele Wasser nicht mehr fassen. Kleinere Brücken wurden mitgerissen und Häuser beschädigt. Lange Zeit konnte man die Schäden von der Bundesstraße aus sehen. Gleise hingen teilweise in der Luft. Eine tonnenschwere Baumulde lag im Flussbett. Die Reparaturen an der Volmetalbahn laufen aber jetzt schon seit Längerem.“ Der Wanderer lächelt traurig. „Solche Schäden zu reparieren, braucht viel Zeit“, fügt er noch hinzu. „Doch zum Glück sind wir beide ja gut zu Fuß.“ Zum Abschied tippt sich der Wanderer an den Hut, nickt und steigt in den Zug.

Karl ist noch ganz erschüttert. Wer hätte sich denn vorstellen können, dass die schmale, fröhlich plätschernde Volme eine solche Kraft entwickelt und eine Bahnstrecke, Brücken und Häuser beschädigt? Still und nachdenklich nimmt er auf einem Doppelsitz Platz, holt sein Notizbuch aus der Kiepe. Hochwasser Volme (Starkregen) schreibt er auf seine Liste. Wieder ein Thema, über das er sich genauer informieren müsste. 

Waren die Hochwasserschäden im Volmetal, die Sperrung der Autobahn oder auch der Zustand der Wälder noch ein Thema, das sich lokal oder regional lösen ließ? Seine kabarettistischen Spitzen hatten meist die kleinen Themen behandelt, sich an die Lokal- und manchmal an die Regionalpolitik gerichtet. In Meinerzhagen und vielleicht auch mal im Märkischen Sauerland. Doch diese Themen schienen ihm eine ganz andere Nummer zu sein. Er blickt aus dem Fenster, der Zug bleibt immer nah am Fluss. Mal auf der einen, mal auf der anderen Seite. Er liebt diese Strecke, die nicht von ungefähr Volmetalbahn heißt. 



Zurück in der Heimatstadt

Draußen dunkelt es jetzt. Wenig später erreicht er Meinerzhagen, schultert seine Kiepe, steigt aus und geht die letzten Kilometer bis zum Fumberg, wo er seine feste Bleibe hat, zu Fuß. Morgen früh werden ihn beim Blick aus dem Fenster die Meinhardus-Schanzen begrüßen. Ihre Neu- und Umbauten waren immer wieder ein willkommenes Thema seiner ironischen Kommentare. Doch inzwischen haben die drei Schanzen sich zu einem Wahrzeichen in der Stadt entwickelt. Zu einer echten Konstante über die er gerade angesichts der Entdeckungen der letzten Tage froh ist. 

Auch unterwegs gab es zum Glück viele Konstanten: Berge und Täler, die Kirchen und die Burg. Doch darüber hinaus entdeckte er interessante und teilweise völlig unerwartete Veränderungen im Märkischen Kreis. Gewünschte und unerwünschte Veränderungen. Er nimmt seine Notizen zur Hand und erkennt: Seine Heimatstadt und seine Heimatregion kann er gar nicht mehr so kleinräumig betrachten wie damals.

Früher mag Meinerzhagen eine eigene kleine Welt gewesen sein, in der er ironische Kommentare zu lokalen Entwicklungen machen konnte. Oder darüber hinaus die eine oder andere Spitze über das Märkische Sauerland fallen lassen konnte. 

Heute hängt alles mit allem zusammen. Kein Ort ist mehr eine Insel, nicht Meinerzhagen, nicht das Märkische Sauerland. Alles ist Teil einer sich immer schneller verändernden, vernetzten Welt. Das muss er im Hinterkopf behalten, wenn er sich wieder einmal über die kleinen Ärgernisse des Lebens, die Bagatellen auslässt. Die bessere Idee wäre allerdings, seinen Fokus künftig gleich auf die größeren Zusammenhänge zu legen. 


Fritz Sträter (1926 - 2006)

Fritz Sträters Geburtsort Oberkorbecke ist heute ein Ortsteil von Meinerzhagen. Er wuchs größtenteils bei seiner Großmutter in Müllenbach und Genkel – Nachbardörfer von Meinerzhagen – auf, von der er das Platt erlernte. Nach der Mittleren Reife (Selekta) und dem Studium an der Staatlichen Ingenieurschule war Sträter Maschinenbauingenieur und gründete später ein Unternehmen. Eines seiner Hobbys war das Verfassen von launigen Texten in Versform über meist lokale Ereignisse im regionalen, für das Märkische Sauerland typischen Plattdeutsch. Namenspaten für ‚Karl‘ vom Ebbe, dem er seine ironischen Kommentare in den Mund legte, waren sein Vater und seine beiden Großväter.

Die meisten seiner Auftritte von Karl vom Ebbe fanden auf den Meinerzhagener Schützenfesten ab 1960 statt. Zunächst verkörperte der Schreiner und Amtsbrandmeister Wilhelm Vogel ihn, ab 1967 übernahm Sträter selbst die Rolle. Karl vom Ebbe wurde über die Jahre ein selbstverständliches Mitglied des städtischen Lebens. 1996 wurde ihm ein Denkmal errichtet, bei dieser Gelegenheit ließ Sträter die Figur ein letztes Mal aufleben. Er selbst lebte bis zum Ende seines Lebens 2006 in Meinerzhagen.


Wusstest du schon, dass ...

… Fritz Sträter 36 Jahre lang Texte für Karl vom Ebbe schrieb  - immer im sauerländisch-märkischem Platt und immer in Versform?

… er ihn auch bei den meisten Auftritten verkörperte?

… Karl vom Ebbe in den frühen 1960er Jahren viermal von Wilhelm Vogel dargestellt wurde, weil er dessen Gestalt anfangs besser entsprach als der damalige Mittdreißiger Fritz Sträter selbst?

… Fritz Sträter bis 1996 als Karl vom Ebbe in und um Meinerzhagen auftrat? 

… der letzte Auftritt 1996 zur Einweihung des Karl-vom-Ebbe-Denkmals stattfand?  

… das Karl-vom-Ebbe-Denkmal heute die Sauerländer zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeigen soll? Die Figur wird von vielen kleinen Figürchen begleitet, die beispielsweise verschiedene Handwerker darstellen.


Mehr erfahren




Karl vom Ebbe unterwegs

Hast du Lust, dich auf Karl vom Ebbes Spuren zu begeben? Dann besuche mal folgende Orte. 


Hinweis

Die Geschichte dreht sich um die von Fritz Sträter entwickelte Kunstfigur Karl vom Ebbe.

Alle Handlungen und Situationen sind fiktiv.


Literatur

Karl vom Ebbe. Heiteres und Nachdenkliches über große & vor allem kleine Begebenheiten in und um Meinerzhagen. Verfasst von Fritz Sträter. Herausgegeben von Detlev Sträter, Dagmar Sträter-Müller und Uwe Sträter, Selbstverlag; Meinerzhagen 2007
 

Text: Sabine Schlüter - Die flotte Feder

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