Das Kiepenlisettken erobert sich die Welt
Was heute Facebook und Amazon sind, war im 19. Jahrhundert in der ländlichen Grafschaft Mark der Kiepenkerl oder – wesentlich seltener – die Kiepenfrau, die zu Fuß als wandernde HändlerInnen von Hof zu Hof und Ort zu Ort zogen. Eine von ihnen ist bis heute im Märkischen Sauerland als Kiepenlisettken bekannt und war wegen ihres etwas schrulligen, aber sympathischen Wesens überall beliebt.
Lisette kannte ihre Kundschaft sehr genau, wusste, was die Landbevölkerung glücklich machte, die so gar keine Kramerläden in der Nähe hatten: Dinge des täglichen Bedarfs wie Garne, Nadeln, Knöpfe und Gewürze. Gratis dazu gab es Klatsch, Tratsch und Neuigkeiten.
In Schalksmühle auf dem Rathausplatz steht ihr Denkmal. Tagein, tagaus und meist allein, wie auf ihren einsamen Wanderungen. Nur am Markttag mischt sie sich unter die Menschen. Hier erzählt sie ihre Geschichte.
Lisettes Aufbruch
„Die Kiepenkerle, die immer am Hof vorbeikamen, brachten mich auf einen Gedanken“, fährt sie fort. „Ich war jung und kräftig, nicht besonders schüchtern. Frauen machten das natürlich eigentlich nicht, aber ich wollte mich als wandernde Händlerin auf den Weg machen.“ Lisette lächelt breit über das gutmütige Gesicht. „Es war ganz einfach, mir eine Kiepe zu bauen. Carl half mir dabei, obwohl er meinen Plan nicht guthieß.“
„Die Kinder brachten wir zu Verwandten, ich packte die Kiepe voll mit Schinken und Würsten von unserem Bauern und brach auf. Ich ging nach Lüdenscheid, um alles zu verkaufen und Waren für die Wanderung über Land zu bekommen. Was auf den Höfen fehlt, wusste ich genau und füllte die Kiepe mit Garnen, Nadeln und Knöpfen. Damit machte ich mich auf den Weg in Richtung Halver und Kierspe.“
Lisette schmunzelt erneut. „Es waren milde Frühlingstage, aber die Kiepe war sehr schwer und ich hatte auch noch einen Korb dabei. Arme und Füße taten mir weh, der Schlamm in Wäldern und Wiesen machte mir zu schaffen. Dauernd rutschte ich aus und bekam nasse Füße. Doch ich lernte schnell dazu, wickelte mir Stoff als Gamaschen um die Beine. Ich wanderte und wanderte, war leichten Herzens und stieß stets auf Menschen, die mich froh begrüßten. Schlafen konnte ich meistens in Scheunen. An meine erste Nacht erinnere ich mich gut. Der Bauer war nur etwas älter als ich und ziemlich erstaunt, als ich gegen Abend an die Tür klopfte. Die Bäuerin kam dazu und beide luden mich zu Essen und Trinken ein. Ich erzählte meine Geschichte und verkaufte gleich die ersten Garne und Knöpfe. Richtig gut habe ich in ihrer Scheune geschlafen. Der Hof war dann oft meine erste oder letzte Station.“
Aus Lisette wird Lisettken
„Die ganze Wanderung war ein guter Anfang, ich brachte ein paar Taler heim nach Rotthausen. Das besänftige Carl ein bisschen.“ Lisettes Augen glänzen. „Schon bald machte ich mich wieder auf den Weg. Mit jedem Mal wurde ich mutiger, ging weitere Wege und begann auch, Gewürze zu verkaufen. Manchmal suchte ich mir im Wald einfach ein trockenes Plätzchen zum Schlafen. Dort huschte ich immer knurrend dreimal im Kreis um meinen Schlafplatz, um Tiere und böse Geister zu vertreiben.“
Sie kichert. „Das wirkte ganz gut. Aber natürlich hatte ich auch immer meinen dicken Wanderstock an der Schlafstatt.“
„Schon im Sommer des ersten Jahres wanderte ich bis nach Mainz und Frankfurt, nahm auf dem Hinweg von den Höfen Briefe und Pakete für Jungs aus der Heimat mit, die beim Militärdienst waren“, berichtet sie. „Damit war ich immer sehr willkommen, vor allem weil ich auch unterwegs viele Neuigkeiten erfuhr und berichten konnte.“
„Ich erinnere mich noch gut an meinen Rückweg im Spätsommer 1870. In Mainz hatte ich erfahren, dass Napoleon III. kapitulieren und anschließend abdanken musste. Mitten im Krieg. Auf den Höfen hatte sich diese Kunde noch gar nicht verbreitet, es gab ja dort kaum Zeitungen. Besonders in der Heimat war die Freude groß. Denn es gab Hoffnung auf ein Ende des Deutsch-Französischen Kriegs und die Rückkehr von Söhnen und Brüdern. Mehrere Abende lang schwatzte darüber ich mit vielen Familien, die ich am Weg besuchte.“
Sie schaut versonnen. „Fröhlich war das. Vor allem, als ich dann noch erzählte, dass in Rönsahl gerade eine Schnapsbrennerei errichtet wird. Ich versprach, beim nächsten Mal ein paar Flaschen mitzubringen.“ Lächelnd fährt sie fort. „Diese weiten Wanderungen habe ich noch viele Male gemacht. Nicht nur nach Frankfurt und Mainz, auch nach Einbeck. Das war eine gute Zeit, bestimmt 15 Jahre lang. Mit den Leuten kam ich gut zurecht, sie nannten mich schon lange Lisettken. Die Familie in Rotthausen kam ohne mich zurecht, vor allem steuerte ich einen guten Teil an Talern bei. Es hätte so weitergehen können.“
Lisettken ändert ihre Meinung …
„Doch dann wurde alles anders.“ Lisette wirkt plötzlich bekümmert. „Ich war nie in der Dunkelheit gewandert, denn im Dunkeln waren Wege und Wälder gefährlich. Nicht nur wegen Schlamm, Gestein und Wurzeln, sondern auch wegen Halunken im Unterholz“, erklärt sie.
„Es war im Frühherbst ungefähr auf halbem Rückweg von Frankfurt. Die Sonne ging recht früh unter und ich hatte noch keinen Schlafplatz. Neben einem Haferkasten wollte ich die Nacht verbringen, doch es regnete. Der Wald bot da mehr Schutz“, sie seufzt, „also suchte ich in der Dämmerung einen geschützten Platz am Waldrand. Wie immer schaute ich sehr genau, wo ich mich niederließ und drehte meine Runden um den Schlafplatz.“
„Wahrscheinlich habe ich doch nicht gut genug aufgepasst. Nachts wurde ich jedenfalls wach und spürte jemanden in der Nähe. Kein Tier, das war sicher. Ich blieb mucksmäuschenstill, doch ich war bereits entdeckt.“ Lisette schüttelt den Kopf.
„Ein Räuber hatte sich angeschlichen. Er hatte es auf meine Kiepe und meine Taler abgesehen, die ich in einem Beutel unter meiner Schürze verbarg. Er warf sich auf mich und suchte danach. Mein Kleid war nicht so leicht kaputt zu kriegen“, lächelnd hebt sie ihren schweren Rock, „aber die Schürze riss er samt Beutel ab. Ich griff nach meinem Stock und schlug den Mann mit kräftigen Hieben in die Flucht. Was für ein Glück, dass er allein war!“
Lisette bewegt nochmals den Kopf, wie um die Erinnerung abzuschütteln. „Er rannte schnell davon, ließ die Kiepe liegen. Aber er hatte meine Taler. Das war schlimm!“ Sie schweigt einen Moment. „Natürlich schlief ich in jener Nacht nicht mehr. Bei Morgengrauen wanderte ich weiter. Ich schaute mich immer wieder um, aber der Angreifer war weg. Erst langsam wurde mir klar, dass ich mit dem Schrecken, ein paar Beulen und dem Leben davongekommen war.“
… und bleibt in der Region
„Eine Warnung war das, doch den Handel wollte ich nicht ganz aufgeben. Aber ich entschloss mich, in der näheren Umgebung zu bleiben. Hier kannte und kenne ich jeden Hof, jeden Weg, beinahe jeden Strauch. Und so werde ich zwischen Halver und Schalksmühle von Hof zu Hof und von Ort zu Ort wandern bis ich eben nicht mehr wandern kann –mit Garnen, Nadeln, Knöpfen in der Kiepe und vielen Neuigkeiten im Gepäck.“
Wusstest du schon, dass ...
… das Kiepenlisettken 1845 als Lisette Buschhaus in Schmidthausen bei Kierspe geboren wurde?
… sie 1866 in Halver Carl Cramer heiratete und mit ihm nach Schalksmühle-Rotthausen zog?
… sie bis 1907 lebte und zuletzt bei ihrer Tochter Lina wohnte?
… sie als Kiepenlisettchen Anfang des 20. Jahrhunderts zahllose Postkarten schmückte?
… die Statue des Kiepenlisettkens vom Kierpser Bildhauer Waldemar Wien geschaffen wurde?
Hier war das Kiepenlisettken unterwegs
Wie das Kiepenlisettken kannst du heute in der Region Schalksmühle, Halver und Kierspe wandern. Für dich ist es natürlich leichter, denn dein Rucksack ist sicher nicht so schwer wie eine Kiepe. Hier sind einige Strecken, auf denen sie bestimmt auch unterwegs war:
So sah es zur Zeit des Kiepenlisettkens bei uns aus
In unserer Region gibt es einige Zeugnisse des bäuerlichen Lebens, wie es noch zu Lebzeiten des Kiepenlisettkens war. Schau dir dazu z.B. das Bauernhaus Wippekühl und die Haferkästen an. Parallel begann insbesondere an den Flüssen die industrielle Revolution. Eisenbahnlinien wurden gebaut, Industriebetriebe entstanden, die heute teilweise Industriedenkmäler sind.
Die Geschichte hat sich biografischer Details eines Originals des Märkischen Sauerlands bedient. Dennoch ist es hier eine Kunstfigur.
Innerhalb des belegten historischen Rahmens sind Beschreibungen, Handlungen und Situationen der Figur fiktiv.
Literatur
Der Mond über Lüdenscheid – Die unglaubliche Karriere des „Kiepenlisettken“ aus P. Bürger (Bearb.): Dai van der Stroten – Menschen des Straßenlebens in der Mundartlyrik Christine Kochs und in der Geschichte des Sauerlandes, veröffentlicht in daunlots. internetbeiträge des christine-koch-mundartarchivs am museum eslohe, nr. 72, Eslohe, 2014, online verfügbar unter: http://www.sauerlandmundart.de/daunlots.html (Stand: 2014, letzte Überprüfung: 11.10.2022)
Text: Sabine Schlüter - Die flotte Feder