Erstaunliche Geschehnisse an der Luisenhütte in Balve
Als Clemens August von Landsberg zu Erwitte Anfang 1758 die Leitung der Wocklumer Eisenhütte übernimmt, ist sie noch gar nicht in Betrieb. Seine Mutter, Anna Maria Theresia von Landsberg hatte jedoch alles vorbereitet, damit er durchstarten kann. Obwohl er eigentlich Jurist ist, geht er frohen Mutes ans Werk. Doch erst ein einprägsames Erlebnis entfacht seinen Ehrgeiz so richtig.
Das Mühlrad hatte sich vor einigen Tagen verhakt, was den Betrieb gleich behinderte. Wenn der Blasebalg nicht permanent in Betrieb ist, erreicht der Ofen nicht die erforderliche Temperatur von 1.400 Grad Celsius. Clemens August äußert seine Erleichterung, dass sich das Mühlrad wieder dreht. „Wir sollten einen zweiten Ofen bauen“, fährt er fort. „Und ein zweites Mühlrad!“ Doch Möller wiegt nachdenklich den Kopf. „Vielleicht, gnädiger Herr, aber womöglich reicht uns der Schwung dann nicht. Der Borkebach führt derzeit wenig Wasser. Die Hitze“, sagt er und deutet nach oben. „Wenn es nicht bald regnet, wird auch der Hüttenteich austrocknen.“
Clemens August hebt die linke Augenbraue. „Tatsächlich? Das ist mir gar nicht bekannt!“, sagt er. Möller nickt. „Sehen wir es uns an“, sagt Clemens August. Energisch schreitet er voran, am Stabhammer vorbei, den Hang zum Stauteich hinauf. Am Ufer bleiben beide stehen.
Den Hüttenteich kennt Clemens August nur randvoll, jetzt ist der Wasserspiegel deutlich gesunken. Er nickt nachdenklich, dann schaut er Möller an und sagt: „Der Wassermangel wird uns sicher nur temporär treffen. Wir lassen das mal auf uns zukommen. Über zu wenig Regen können wir uns ja eigentlich nicht beklahahaha …. Aaah!“
Ein Stück des ausgetrockneten Ufers bricht unter seinen Füßen weg und rutscht in den Teich. Clemens August verliert das Gleichgewicht, er rudert mit den Armen, findet jedoch keinen Halt. Sein Oberkörper schwingt nah vorne und Clemens August stürzt kopfüber hinein. Ein runder Wellenkreis bewegt sich auf die Ufer zu. Stille. „Gnädiger Herr?“, ruft Möller. „Herr von Landsberg zu Erwitte ?“ Stille. „Zu Hilfe!“, brüllt Müller. „Zu Hilfe! Herr von Landsberg zu Erwitte … ertrinkt!“ Schon kommen Männer aus dem Stabhammer angelaufen und erklimmen den Hang. Sie erfassen die Lage sofort. Auf dem Teich schwimmt ein Hut.
Als er sie wieder öffnet, erschrickt er nochmals. Die Meerjungfrau schwebt auf ihrem Floß über ihm und lächelt lieblich. „Komm‘“, sagt sie. „Ich helfe dir.“ Sie reicht ihm die Hand. Clemens August fährt erschrocken zurück. „Wo ist Möller?“, fragt er. „Wer ist Möller?“, fragt sie zurück. Er verrenkt sich den Hals. „Mein … Eben stand er noch da beim Stabhammer …“, er stutzt und bemerkt erst jetzt eine Traube von Menschen am Ufer, die herüber starrt. Wo kommen die denn her? Und wie sehen sie aus? Mechanisch lässt er den Holzpfahl los und versinkt.
Kurz darauf taucht Clemens August wieder auf und schaut sich vorsichtig um. Er muss träumen. Erneut streckt ihm die Meerjungfrau lächelnd die Hand entgegen. Was für ein betörendes Lächeln, was für eine zarte Hand. Dieses Mal nimmt er sie. Doch natürlich klappt die Rettung nicht auf Anhieb, die Flosse ist einfach hinderlich. „Kann mal jemand helfen?“, ruft die Nixe. In der Menge greifen Hände an Hinterteile. „Sofort!“, brüllt sie. „So ein zartes Wesen und so eine Stimme“, denkt Clemens August, während er versucht, sich am Floß hoch zu hangeln.
Neben ihm platscht es. Jemand ist ins Wasser gesprungen. „Möller?“, fragt er. Doch nein, es ist ein junger Mann, der ihn jetzt hochschiebt. Endlich liegt er auf dem Floß und atmet schwer. Die Menschen am Ufer scheinen zu applaudieren. „Kannst du denn nicht schwimmen? Mit den schweren Klamotten hättest du leicht untergehen können“, sagt die Meerjungfrau, während sie das Floß an einem Seilzug ans Ufer zieht. „Schau, dass du wieder trocken wirst. Setz dich am besten etwas in die Sonne.“
Clemens August ist aufgestanden. Er versteht die Welt nicht mehr, versucht aber die Form zu wahren. „Darf ich mich kurz vorstellen?“, er deutet eine Verbeugung an. „Clemens August von Landsberg zu Erwitte!“ Er betont das von und das zu besonders. „Hi Clemens, ich bin Nike“, sie gibt ihm die Hand. „Deine Kolleg*innen laufen hier auch auf dem Gelände rum. Luise und Alfred können dir sicher helfen.“ Verstört lässt sich Clemens August von dem jungen Mann ans Ufer helfen. Der reicht ihm auch seine Perücke. „Danke“, sagt er, setzt sie auf und nickt Nike ein letztes Mal zu.
Verkehrte Welt
Was macht die Meerjungfrau auf seinem Hüttenteich? Woher kommen die merkwürdig gekleideten Menschen, die – auch wenn manche ein bisschen so aussehen – weder seine Hüttenarbeiter oder Hammerschmiede noch seine Beamten sind, die er ja alle persönlich kennt? Er tritt durch die Menschentraube zum Hang, den er eben mit Möller hinaufgestiegen ist und stockt schockiert – Menschen über Menschen, Zirkusleute, Frauen in Hosen, Frauen in luftigen Nachtgewändern, lachende, herumlaufende Kinder und eben diese Männer in Arbeitskleidung. Viele haben Flaschen oder Gläser in der Hand, manche etwas zum Essen, die meisten halten kleine, schwarze, rechteckige Platten in verschiedene Richtungen, aber keiner arbeitet. Wo zum Henker ist Möller?
Den Hang führt eine stabile Treppe hinab. Links steht der Stabhammer, doch davor sind bunte Blumen aus dem Boden geschossen, mittendrin steht ein Elefant. Nein, ein Mammut. Das Schreiberhaus, Möllers Amtsstube, ist umringt von hüpfenden Menschen beiderlei Geschlechts. Clemens August steuert mutig darauf zu. Schwungvoll tritt er ein und wäre um ein Haar gegen eine Glasscheibe geprallt, hinter der Möllers Katheder steht. Hier ist Möller also nicht. Kopfschüttelnd tritt er aus dem Häuschen und erschrickt erneut.
Seine Eisenhütte! Das Gebäude ist unverkennbar, aber es ist gewachsen. Nach rechts und in die Höhe. Und es scheint nicht in Betrieb zu sein, denn der Schornstein qualmt nicht. Auch der markante Geruch von Feuer, Eisen und Schlacke fehlt. Verzweiflung macht sich in ihm breit. Was ist das hier? Wo ist er hier? Er muss nachdenken. Aber wie soll er das bei diesem Lärm?
Ein hohes Sirren liegt in der Luft, Trommeln geben einen Takt. Sind hier Truppen im Anmarsch? Er lokalisiert endlich den Lärm und entdeckt – eine Wanderkapelle. Soll das Musik sein? Die Töne kommen von einem verkürzten Cembalo, einem Bass, der ohne Bogen gespielt wird, einer Staffel unterschiedlicher Trommeln und einem anderen, sehr merkwürdigen Saiteninstrument, gespielt von einem Piraten! Einer der Männer singt, wie ihm scheint, völlig unmelodisch in einer ihm unbekannten Sprache immer wieder Mörie, Mörie. Oder ist das Englisch? Männer, Frauen, Kinder wippen, lachen und tanzen.
Er muss hier weg. Er muss nachdenken! Clemens August bahnt sich den Weg durch die Menschen, um die Anhöhe hinaufzugehen, von der aus er heute Morgen wie jeden Tag auf seine Hütte geblickt hatte. Vorbei an einem Schwertschlucker und einem Gaukler, der farbenfroh gekleideten, unerschrockenen Kindern in ein merkwürdiges Schleudergerät hilft. Unter einem bunten Zirkusdach, mit spielenden Kleinen hindurch über die Wiese und mitten hinein ins Gerstenfeld.
Oben angelangt, setzt er sich hin, einen Halm im Mund. Hier ist alles vertraut. Die Erde, die Felder, die Wälder am Burgberg. Er streckt sich in der Sonne aus und beruhigt sich ein wenig. „Grotesk“, murmelt er vor sich hin und denkt nach. Doch er begreift nicht, was passiert ist. Vielleicht sollte er einfach zum Schloss laufen. Seine Kleidung und seine Perücke sind inzwischen fast trocken, grüne Schlieren sind an beiden noch zu sehen. Er steht auf und geht einige Schritte den Burgberg hinauf, bis er das im Tal des Orlebachs liegende heimatliche Schloss sieht. Wieder läuft ihm ein Schauder über den Rücken. Neben dem Schloss stehen mehrere unbekannte Gebäude.
Ungeahnte Erkenntnisse
Entsetzt dreht er sich um und blickt wieder hinunter zur Eisenhütte. Über das hoch stehende Getreide hinweg verfolgt er das bunte Treiben auf seinem Land im Tal. Er schüttelt den Kopf. Manchmal, wenn ihm der Stoff während seiner juristischen Studien zu trocken wurde, hatte er fantastische Bücher gelesen. Mit Voltaire war er in den Weltraum gereist, mit Swifts Gulliver in unentdeckte Länder. Und bei Margaret Cavendish sogar in eine Parallelwelt am Nordpol. Aber das ist philosophische Literatur. Und dies hier eigentlich das bodenständige Westfalen. Doch er scheint in einer fremden Welt, in einer fremden Zeit zu sein.
In Gedanken versunken, macht der sich auf den Weg zurück zur Hütte. Dann bleibt er wie angewurzelt stehen. Eine Rampe führt in den Dachstuhl der Eisenhütte hinein. Sie war ihm in dem ganzen Trubel noch gar nicht aufgefallen. Das muss er sich aus der Nähe ansehen. Schnellen Schrittes steigt er die Rampe hinauf und staunt. Am Ende des Raums ist offenbar ein Ofen. Eine Frau in langem Kleid mit weißer Haube auf dem Kopf erzählt einer Gruppe von Menschen etwas von einem Umbau. Immerhin versteht er die Sprache.
„Ignaz von Landsberg baute die Luisenhütte, die er nach seiner Frau benannte, mehrmals grundlegend um. 1853/54 zum letzten Mal. Dieser neue Hochofen war deutlich höher und leistungsfähiger als der nach dem Umbau von 1834. Er wurde von hier oben mit Erzen befüllt, mit Kohle bzw. Koks beheizt und bis zu 1.600 Grad Celsius heiß.
Mit diesem Ofen wurde in großem Stil Gusseisen produziert, das sehen Sie dann unten in der Gießhalle. Neben der Ofenöffnung, der Gicht, befinden sich der Heizkessel und der Röhrenwinderhitzer. Das Dach über der Gicht wurde während der Hüttenreise, der eigentlichen Produktion, wegen Funkenflugs und, um die Arbeiter vor Kohlenmonoxid zu schützen, abgedeckt. Außerdem ließ er eine Gebläsedampfmaschine und ein Zylindergebläse installieren, auch die sehen Sie unten.“
Clemens August schwirrt der Kopf. Luisenhütte? Was für Neuigkeiten! 1834! Ignaz von Landsberg muss ein Verwandter von ihm sein. Aber das ist der Weg, den seine Eisenhütte in den nächsten 100 Jahren nehmen wird! Den zweiten Ofen kann er sich wohl sparen. Sein so hoher Hochofen ist noch zu niedrig! Die Zukunft liegt in immer höheren Öfen. Clemens August tritt aus dem Dachgeschoss hinaus, schreitet die Rampe energisch wieder hinab. Er muss in Erfahrung bringen, was das alles zu bedeuten hat. Kindergeschrei holt ihn in die Wirklichkeit zurück.
Abrupt bleibt er stehen. Alles schön und gut, aber wie kommt er in seine Welt zurück? In seine Zeit? Langsam geht er den Hang hinunter, umrundet nochmal seine Hütte. Er begegnet einem riesigen Nilpferd, doch inzwischen wundert ihn nichts mehr. Die Wanderkapelle hat den Ort gewechselt, spielt jetzt vor Möllers Schreiberhaus. Der Mann mit dem Bass schwingt sein Instrument über dem Kopf und zupft daran herum. Grelles Licht blendet Clemens August, sodass er schützend die Hand vor die Augen hebt. Dann entdeckt er zwei Personen mit vertrauterem Aussehen. Einen Mann und eine Frau. Schnell geht er auf sie zu.
Clemens-August stolpert ungläubig ein paar Schritte zurück. Dann macht er auf dem Absatz kehrt und spurtet die Treppe zum Hüttenteich hinauf, wobei er ein paar Leute anrempelt. „Hey!“, hallt es ihm empört hinterher. Doch er lässt sich nicht aufhalten. Ohne zu zögern, stürzt er sich kopfüber in den Hüttenteich. „Röhrenwinderhitzer. Gebläsedampfmaschine. Zylindergebläse“, murmelt er vor sich hin und sieht im Flug noch den überraschten Blick der Meerjungfrau, deren Floß er knapp verfehlt. Dann ist alles dunkel und nass, noch dunkler und noch nasser. Luftblasen blubbern an die Oberfläche des Hüttenteichs.
Prustend taucht Clemens August aus dem Wasser des Hüttenteichs auf, seine Perücke treibt an der Oberfläche. Er spuckt Wasser, dreht sich suchend um und murmelt „Röhrenwinderhitzer. Gebläsedampfmaschine. Zylindergebläse.“ Die Dämmerung hat eingesetzt, doch rund um das Ufer sieht er Menschen mit Fackeln.
„Da!“, ruft plötzlich jemand. „Da ist er! Schnell! Zu Hilfe!“ „Möller!“, ruft Clemens August entkräftet. Zwei der Hüttenarbeiter reichen ihm eine Stange und ziehen ihn ans Ufer. Seine Gattin stürzt besorgt auf ihn zu. „Mein Lieber, wir haben uns so gesorgt!“ „Ach, meine Liebe, das wirst Du nicht glauben“, er schüttelt den Kopf und glaubt es selber schon kaum mehr.
Jemand spießt seine Perücke auf und reicht sie ihm. Selbst im Schein der Fackeln erkennt er die grünen Schlieren der Entengrütze. Er schaut zurück auf den Hüttenteich, die Wasseroberfläche schimmert sauber und sanft im Licht der Fackeln. „Möller!“, ruft er. „Notieren Sie: Röhrenwinderhitzer. Gebläsedampfmaschine. Zylindergebläse. Kohle und Koks. Und: dreigeschossiger Hochofen!“
Wusstest du schon, dass ...
… Anna Maria Theresia von Landsberg das Eisengewerbe aus der eigenen Familie kannte und daher auf die Idee kam, die Eisenhütte zu bauen?
… Clemens August von Landsberg zu Erwitte die Eisenhütte tatsächlich ausbaute und lange erfolgreich führte?
… sein Enkel Ignaz von Landsberg-Velen und Gemen die Luisenhütte im 19. Jahrhundert nach seiner Frau Luise von Westerholt-Gysenberg benannte?
… erst Ignaz die bahnbrechenden Neuerungen wie den Röhrenwinderhitzer, die Gebläsedampfmaschine und das Zylindergebläse einführte?
… die Luisenhütte bis 1865 in Betrieb war und stillgelegt wurde, weil sie nicht mehr konkurrenzfähig war?
… die Luisenhütte lange mit Holzkohle betrieben wurde, weil die von Landsbergs sie günstig aus den eigenen Bäumen produzieren konnten?
… die Luisenhütte die älteste vollständig erhaltene Hochofenanlage Deutschlands ist?
Du möchtest die Gegend um die Luisenhütte erkunden?
Da gibt es einige Möglichkeiten – entweder zu Fuß oder per Rad.
Hinweis
Die Geschichte bedient sich biografischer Details von Clemens August von Landsberg zu Erwitte.
Dennoch ist er hier eine Kunstfigur. Beschreibungen und Handlungen der Figur sowie Ereignisse und Situationen sind fiktiv.
Literatur
Hinz, Frank-Lothar, Die Geschichte der Wocklumer Eisenhütte 1758-1864 als Beispiel westfälischen adligen Unternehmertums, herausgegeben im Auftrag der Freunde der Burg Altena e.V. im Rahmen der Altenaer Beiträge (Band 12) von Rolf Dieter Kohl, Altena, 1977
Text: Sabine Schlüter – Die flotte Feder