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Gemeinsam stark

Dr. Friedrich Deisting unterstützt seine Mitmenschen in Kierspe


Wer selbst aus eher ärmlichen Verhältnissen stammt, erkennt früh, wo Menschen in Not sind. Friedrich Deisting kam als junger Arzt direkt nach seinem Studium in Berlin 1880 nach Kierspe und eröffnete eine Praxis. Jahrelang pflegte der Doktor dort selbst einen sehr bescheidenen Lebensstil. Denn auch die Ärmsten zu behandeln und zu heilen war ihm wichtiger, als angemessene Rechnungen zu stellen.

Dabei wurde ihm immer klarer, dass seine Unterstützung nicht mehr war, als ein Tropfen auf den heißen Stein. Grundsätzliche Änderungen der Verhältnisse waren nötig, um der zumeist bäuerlichen Bevölkerung zu helfen. 1900 beteiligte er sich daher maßgeblich an den Vorbereitungen zur Gründung der ersten bäuerlichen Genossenschaft in Kierspe. So könnte es sich zugetragen haben.

 


Erschöpft schloss Dr. Friedrich Deisting die Tür seiner Praxis hinter dem letzten Patienten ab. Er zog seine Taschenuhr heraus. Sieben. Hohe Zeit für das Abendessen, Anna und Friederike würden schon warten. Wie gut, dass er einen wahren Rossmagen hatte. Nicht wegen Annas Kochkünsten natürlich. Denn angesichts der offenen Beine von Hertha Klugmann und der Arbeit mit den Blutegeln wäre einer empfindsameren Seele sicher der Appetit vergangen. Er zog sein Jackett aus, goss Wasser in die Waschschüssel, krempelte die Hemdsärmel hoch und begann, sich gründlich Hände und Unterarme einzuseifen und zu schrubben. Dann spülte er sie einzeln mit klarem Wasser aus dem Krug ab, schüttelte sie trocken und strich anschließend mit den Händen durchs Gesicht. Das tat gut. Er griff nach einem Handtuch. 

Zwar hatten Hertha Klugmanns Beine heute schon etwas besser ausgesehen als noch vor einigen Tagen, doch der Heilungsprozess verlief zäh. Er hatte die Bäuerin in Verdacht, sich nicht an die verordnete Bettruhe zu halten. Dass sie den ganzen Tag auf den Beinen war, um den Haushalt am Laufen zu halten. Er dachte an seine eigene Mutter, die ebenfalls 10 Kinder und einen Mann zu umsorgen gehabt hatte. In solch einem Haushalt war viel Arbeit zu leisten. Hertha ging darüber hinaus bestimmt noch mit auf die Felder, denn die Ernte war in vollem Gange. Deisting seufzte und schüttelte den Kopf. Er hoffte, dass sie seine erneuerte Mahnung ernst nahm. Wurde das Leiden erst einmal chronisch, gab es keine Heilungschancen mehr.


Karge Kost


Erst jetzt bemerkte er, dass er von der letzten Behandlung einige Blutspritzer auf dem Hemd hatte. Anna würde es waschen müssen, es reichte nicht, nur den Kragen zu wechseln. Deisting warf noch einen prüfenden Blick durch die Praxis, dann öffnete er die Durchgangstür zur Wohnung, wo seine Familie ihn bereits erwartete. „Gut, dass du kommst“, empfing Anna ihn. „Der Kohl in der Suppe wurde schon weich, ich musste sie vom Feuer nehmen.“ Sie schob einen Topf sogleich in die Mitte des gusseiserenen Herds zurück. Friederike deckte den Tisch. „Verzeiht die Verspätung“, antwortete Deisting. „Die Behandlung von Hertha Klugmanns Bein braucht einfach Zeit.“ Anna nickte verständnisvoll. „Ich weiß, ich weiß“, sagte sie. „Konnten Sie denn ihre Rechnung zahlen?“

Deisting schüttelte den Kopf. „Nur einen Abschlag“, sagte er. „Aber sie haben einen Sack Kartoffeln mitgebracht.“ Anna füllte am Herd einen ersten, dann einen zweiten Teller mit der Kohlsuppe und brachte sie ihrem Mann und ihrer Tochter, die inzwischen das Brot schnitt. Dann nahm sie sich selbst und setze sich zu ihnen. Sie sprachen ein kurzes Gebet und aßen dann still, bis der erste Hunger gestillt war. „Kann das immer so weitergehen?“, fragte Anna. Der Doktor tunkte ein Stück Brot in die Suppe und biss davon ab. Kauend wiegte er den Kopf. „Ich weiß es nicht“, antwortete er dann. „Wir leben sehr sparsam“, sagte seine Frau. „Aber selbst wir brauchen etwas Geld.“ Sie deutete auf sein Hemd. „Für Soda und Seife zum Beispiel.“ 

„Ich weiß, aber die Menschen sind arm und es ist meine Pflicht, zu helfen“, sprach er. „Die kleinen Höfe ernähren sie nun mal nicht. Und dann unterbieten sie sich noch gegenseitig in den Preisen.“ Er schüttelte den Kopf. Seit vielen Jahren beobachtete er dieses Phänomen, sah, dass die Landwirte keine Chance hatten, ihre Lage zu verbessern. Zudem war Unterernährung keine gute Voraussetzung für blühende Gesundheit. Arztbesuche wiederum konnte kaum jemand bezahlen. „Man kann nur hoffen, dass die nächste Ernte gut wird.“ Anna nickte. „Ja, aber selbst wenn, bedeutet das keine langfristige Besserung. Die Situation müsste sich grundsätzlich verändern“, sagte sie. „Was meinst du damit?“, fragte er. „Ich weiß es nicht genau“, antwortete sie. „Aber mit so kleinen Stücken Land schafft es keiner für sich allein.“ Friederike nickte.

Nach dem Abendessen räumten die Frauen noch die Küche auf und setzte sich dann mit ihrem Nähzeug zu Deisting, der in der Zeitung las. Immer wieder senkte Deisting das Blatt, berichtete den beiden von Vorkommnissen in der Welt oder der näheren Umgebung. „Hört euch das an“, sagte er. „In Hamburg haben sie Anfang des Jahres schon eine Genossenschaft gegründet. Konsum-, Bau- und Sparverein „Produktion“ nennt sie sich. Das ist ja äußerst interessant!“ „Und was macht diese Genossenschaft?“, fragte Anna. „Ich nehme an, sie sammelt Kapital um günstig Waren einzukaufen und den Bau von Häusern oder Wohnungen zu ermöglichen“, erklärte Deisting. „Jeder, der einzahlt, hat Anspruch auf vergünstigte Waren oder auf eine spätere Geldzuteilung. Wir müssen in Kierspe auch endlich in diese Richtung gehen.“ Anna nickte. „Ja, das glaube ich auch“, sagte sie. Dann kamen sie wieder auf die Patienten zu sprechen. Es gab mehrere heikle Fälle im Ort und für Deisting standen am nächsten Tag nach der Sprechstunde einige Hausbesuche an. 




Medizinische Herausforderungen


Wie gewohnt öffnete Deisting am nächsten Morgen die Praxis. Es war erst Sieben, doch die Leute saßen bereits auf der Wartebank, weitere standen in einer Schlange. Er fragte nach besonders dringlichen Fällen. Ein Bauer mit schmerzverzerrtem Blick hob seine Linke, die in einem blutigen Tuch steckte. „Ich habe mir einen Finger abgeschlagen“, sagte er. „Heute Morgen?“, fragte Deisting, während er auf ihn zu ging, und als der Bauer nickte: „Haben Sie den Finger dabei?“  Der Bauer nickte wieder, zeigte ihm ein in Leinen gehülltes Päckchen in der Rechten. Deisting, nachdem er den Wartenden gesagt hatte, es könne etwas länger dauern, geleitete ihn in die Praxis zu einem Stuhl. „Wir kennen uns noch nicht“, sagte er. „Wie heißen Sie?“ „Fuchs, Eberhardt Fuchs aus Isenburg“, antwortete der Landwirt.

„Also, Herr Fuchs, wir müssen jetzt schnell handeln, um Ihren Finger zu retten. Halten Sie den Arm senkrecht in die Höhe!“, ordnete er an und rief durch die Zwischentür. „Anna. Operation!“ Er griff nach seiner frisch gewaschenen Schürze und ging zum Bauern, der ihn mit verschrecktem Blick ansah. „Operation? Wieso Operation?“, fragte Fuchs ängstlich. „Ich brauche einen Verband.“ „Und ihren Finger brauchen Sie nicht?“, fragte Deisting. Der Bauer schaute ihn verstört an. „Doch natürlich, aber …“, sagte er. „Na, dann probieren wir, ihn wieder anzunähen“, unterbrach ihn der Arzt und bedeutete ihm, sich auf die Liege zu legen.

Anna war hereingekommen, ebenfalls mit einer weißen Schürze, Tüchern und einem Kessel kochend heißen Wassers. „Aber …“, der Bauer schaute den Doktor verzweifelt an. „Aber eine Operation kann ich nicht bezahlen.“ Deisting hatte den schmutzigen Hemdsärmel des Mannes hochgekrempelt und band ihm den Arm ab, um die Blutung zu stoppen. „Machen Sie sich darüber erstmal keine Gedanken“, sagte er und klopfte dem Bauern auf die Schulter. „Aber …“, sagte der Bauer. „Aber ich muss auf dem Hof 10 Mäuler stopfen.“ „Das habe ich mir gedacht“, sagte Deisting. „Genau deswegen sollten Sie Ihren linken Zeigefinger wieder nutzen können. Sind sie einverstanden, dass ich Sie jetzt ein wenig ruhigstelle? Die Operation ist schmerzhaft.“ Schließlich lenkte Fuchs ein und Deisting hielt ihm ein in Äther getränktes Tuch vor die Nase. 

Während der Operation arbeiteten Anna und er routiniert zusammen. Sie reinigte die Wunde und den Finger und legte Nadel, Faden und Verbandszeug bereit. Er untersuchte den Stumpf und den Zeigefinger. „Sauberer Schnitt, umso besser“, murmelte er und begann, den Finger anzunähen. Nach der Operation verbargen sie den schlafenden Bauern hinter einem Paravent und Deisting rief die wartenden Patienten einen nach dem anderen hinein. Als Fuchs wieder aufwachte, war der Vormittag fast vorbei. Skeptisch betrachtete er den dick verbundenen Finger an der der linken Hand. „Und Sie meinen, er wächst wieder an?“, fragte er. Deisting nickte. „Aber Sie müssen ihn ruhig halten“, sagte er, band ihm ein Dreieckstuch um und legte den Arm in die Schlinge. „Wie kommen Sie zurück?“ „Mein Ältester wartet sicher schon.“ „Gut, wir sehen uns morgen früh wieder.“




Lange Dienste


Der Vormittag hatte es in sich gehabt. Nach der Fingerrettung hatte er sich noch um weitere Wunden, einen Erwachsenen-Fieberfall und einen Fall von Gicht kümmern müssen. Der Gichtfall war ein gut situierter Herr, dem er strenge Diät verordnete. Der Mann bezahlte seine Rechnung und verließ beleidigt die Praxis. Vor dem Mittag blieb Deisting keine Zeit mehr für seine Fahrt zu den Bettlägerigen. Darum begab sich zunächst an den Mittagstisch. „Kohlsuppe?“, fragte er, als er den Eintopf auf seinem Teller sah. Anna nickte. „Aber heute mit Kartoffeln“, sagte sie. „Der Gichtfall hat seine Rechnung gleich beglichen. Fürs Wochenende kannst du ein Stück Fleisch kaufen“, regte er an. Anna wiegte den Kopf. „Wir werden sehen“, antwortetet sie. 

Am frühen Nachmittag stieg Deisting auf sein Pferd, band seine Arzttasche am Sattelknauf fest und ritt in Richtung Oberbremecke. Wegen heftiger Blutungen hatte er der schwangeren Gerlinde strikte Bettruhe verordnet. Jetzt wollte er sehen, wie es ihr ging, doch die Schwangere schien sich gut zu erholen. Eine Lungenentzündung erwartete ihn auf einem nahegelegenen Gut. Er untersuchte den 70-jährigen Senior des Hauses mit dem Hörrohr. Sein Zustand hatte sich gegenüber seinem letzten Besuch offenbar verschlechtert. Er fragte nach den regelmäßigen Wadenwickeln, der frischen Luftzufuhr und den Inhalationen mit Kräutern, die er verordnet hatte. 

Eigentlich gehörte der Mann in ein Krankenhaus, doch dies war eine ländliche Gegend. Es standen nur das Städtische Krankenhaus im mehr als 15 Kilometer entfernten Lüdenscheid oder das Krankenhaus im auch nicht viel näheren Gummersbach zur Auswahl. Beide waren eigentlich zu weit weg für einen Transport des geschwächten Mannes. Deisting teilte der Familie seine Überlegungen mit. Sie baten um seinen Rat. Guten Gewissens konnte er nur empfehlen, die Behandlung vor Ort konsequent fortzusetzen und dem Patienten leichte, stärkende Speisen zu verabreichen. 

Nachdenklich ritt der Doktor zurück. Eine Lungenentzündung war eine tückische Krankheit, die sich nur schwer heilen ließ und oftmals tödlich endete – zumal bei älteren Herrschaften. Er hoffte inständig, dass der Senior dem Tod nochmal von der Schippe sprang. Nach seiner Rückkehr trank er mit seiner Frau einen Getreidekaffee, Friederike war noch in der Schule. Dann verbrachte er den Rest des Nachmittags in der Praxis. Es ging ruhiger zu als am Vormittag, sodass er pünktlich zum Abendessen erschien. „Du kommst zur rechten Zeit“, sagte Anna. „Die Suppe ist gerade fertig.“ „Kohlsuppe?“, fragte Deisting. Anna blickte kurz vom Topf hoch. „Nein“, sagte sie. „Kartoffelsuppe.“ Beide lächelten. 

Beim Essen berichtete er Frau und Tochter von den Krankenbesuchen, seiner Sorge um den Senior mit der Lungenentzündung und seiner Freude, dass es der Schwangeren besser ging. Sie kamen auf Fuchs zu sprechen, den Bauern mit dem abgehackten Finger. Friederike fragte, wer das sei und Anna berichtete von der Operation am Morgen. „Meinst du, dass er anwächst?“, fragte Anna dann, an Deisting gewandt. „Es war eine glatte Wunde und wir haben schnell gehandelt“, antwortete er. „Ich glaube, er hat gute Chancen.“  „Schwierig, dass er so mitten in der Ernte ausfällt“, sagte sie. „Ja“, bestätigte er. „da wird die Familie ganz schön zu tun haben. Aber Ich hoffe trotzdem, dass er sich zurückhält und die Heilung nicht riskiert.“ 

Er erhob sich, um die Zeitung zu holen. „Gehst du heute nicht hinüber ins Pastorat?“, fragte Anna. „Doch, doch“, gab er zurück, schon ganz versunken in der Lektüre. „Eigentlich“, sagte er kurz darauf. „wäre Herr Fuchs doch ein klassischer Fall für die landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft.“ Seine Miene hatte sich aufgehellt. „Das müssen wir ihm morgen gleich mitteilen.“ Er legte er die Zeitung weg. „Wahrscheinlich müssen wir ihm dabei helfen, aber sei’s drum.“ „Ich kann das tun“, sagte Friederike. Deisting sah sie lächelnd an. „Würdest du das machen? Das ist sehr liebenswürdig von dir“, sagte er. Und während auch Anna nickte, ergänzte er: „Meine Lieben, ich muss gehen. Die Herren erwarten mich sicherlich schon.“  



Gesellschaftliche Aufgaben


Deisting war Mitglied der Gemeinde- und Amtsvertretung sowie der Kirchenvertretung in Kierspe. Er ging die 200 Meter bis zum Pastorat zu Fuß, es lag ein Stück von der Margarethenkirche entfernt neben dem Friedhof. Pastor Nierhoff lud die Herren der Kirchenvertretung regelmäßig zu Gesprächen ein. Dort wurden dringliche Themen der Kirchengemeinde besprochen, doch stets ging es der Herrenrunde auch um das Wohlergehen aller Gemeindemitglieder und der Stadt. Und immer wieder beratschlagten sie, wie sie die bäuerliche Bevölkerung unterstützen könnten. Um Sach- und Geldspenden natürlich, doch die halfen immer nur kurzfristig. Gleiches galt für seine eigenen großzügigen Nachlässe bei den ärztlichen Behandlungskosten.  

Der Doktor berichtete zum wiederholten Mal von seinen Erfahrungen aus der ärztlichen Praxis. Davon, wie prekär die Verhältnisse der Bauern waren. Dass sie kaum Möglichkeiten hatten, Krankheiten auszukurieren. Sei es, weil sie mitarbeiten mussten, sei es, weil sie in ihren Behausungen keine Ruhe bekamen. Kaum jemand kam den Menschen und den schwierigen Verhältnissen, in denen sie lebten, so nah wie er. Darum brachte er die Rede erneut auf das Thema Genossenschaften. Nach seinem Empfinden war die Hilfe zur Selbsthilfe die einzige Möglichkeit, die Situation der Bauern langfristig zu verbessern. 


Es war das genossenschaftliche Prinzip, das ihnen im Zusammenschluss und in eigenverantwortlicher Selbstverwaltung Wege in bessere Verhältnisse ebnen würde. Der Pastor und auch Lehrer Schmidthausen waren der gleich Ansicht. Die anderen Herren jedoch wägten ab, brachten Gegenargumente, waren unschlüssig. Deisting verwies nochmals darauf, dass sich Genossenschaften ja offenbar zu bewähren schienen, sonst wären in den letzten Jahrzehnten kaum so viele entstanden. 

Nach langen Diskussionen schloss der Pastor die Versammlung und verabschiedete die Herren. Der Doktor ging zurück und betrat leise das Haus. Im Schlafzimmer drehte sich Anna zu ihm um, als er eintrat. „Wie war der Abend?“, fragte sie. „Konntest du sie von deinen Ideen überzeugen?“ „Es dauert alles so lange, es gibt noch immer Zweifler. Aber steter Tropfen höhlt den Stein“, antwortete er. 



Wichtige Weichenstellungen

Tage und Wochen zogen ins Land. Auf den Feldern wurde weiter geerntet, auf manchen schon gesät. Hertha Klugmanns offene Beine heilten nicht gut, aber immerhin verschlimmerte sich das Ganze nicht. Eberhardt Fuchs war anfangs beinahe täglich in die Praxis gekommen, um seinen angenähten Finger begutachten, mit Jod bepinseln und neu verbinden zu lassen. Fuchs konnte es nicht fassen, dass er tatsächlich anzuwachsen schien. 

Mittlerweile kam er seltener. Auch Deistings Hausbesuche zeigten erfreuliche Entwicklungen. Nach schweren Wochen kam der Patient mit der Lungenentzündung tatsächlich wieder etwas zu Kräften. Der Kranke schob dies auf seine tägliche Ration Rinderbrühe. Auch Gerlinde, die schwangere Bäuerin schien außer Gefahr. Deisting blieb jedoch vorsichtig und verordnete ihr weiterhin Bettruhe. 

Im Pastorat hatten derweil mehrere abendliche Runden stattgefunden.  Auch in der Gemeinde- und Amtsvertretung hatte Deisting seine Argumente vorgebracht. Die Herren in den verschiedenen Gremien waren sich inzwischen weitgehend einig, dass es eine Genossenschaft in Kierspe geben sollte und wo ihre Schwerpunkte liegen würden: Über eine Bäuerliche Bezugs- und Absatzgenossenschaft sollten die Bauern ihre Erzeugnisse verkaufen und gemeinsam vermarkten können sowie ihr Saatgut zu günstigen Konditionen bzw. auf Kredit kaufen können. 

Und so konnte Deisting seiner Frau eines Abends, als er aus dem Pastorat zurückkehrte, verkünden: „Aus Sicht der Herren steht der Gründung unserer Genossenschaft nichts mehr im Wege. Endlich! Jetzt gilt es, die Bauern zu überzeugen, sich zu beteiligen.“ „Und wer wird sich darum kümmern?“, fragte Anna. „Diejenigen, die sie am besten kennen: der Pastor, der Lehrer und ich wahrscheinlich“, antwortete er. „Und ich hoffe sehr, dass sie sich schnell entscheiden. Je früher die Genossenschaft die Arbeit aufnimmt, desto besser.“ „Ich bin mir sicher, dass ihr drei ihnen ihre Vorteile bestens darlegt. Sie werden Feuer und Flamme sein!“, sagte Anna. „Danke für deine Zuversicht“, sagte er und löschte das Licht. 



Geschickte Kommunikation

Am nächsten Morgen empfing er Fuchs als ersten Patienten. Der Bauer trug einen großen Sack in Praxis. Er reichte ihn dem Arzt. „Vielen Dank, Herr Fuchs“, sagte Deisting. „Was haben wir denn da?“ Er löste den Bindfaden und schaute hinein. Darin lagen sechs oder sieben hellgrüne Kohlköpfe. „Unten sind auch Kartoffeln“, erklärte der Patient. „Vielen Dank“, wiederholte Deisting. „Meine Familie und ich freuen uns sehr. Doch lassen Sie uns ihren Finger ansehen. Wie macht er sich denn?“ „Bestens“, strahlte Fuchs und knickte den linken Zeigefinger ab. „Ich kann ihn sogar schon wieder bewegen!“ „Tatsächlich, ich gratuliere!“, schmunzelte Deisting, dem gerade eine Idee kam. Während er den Finger ein weiteres Mal reinigte, bepinselte und verband, begann er, Fuchs von dem genossenschaftlichen Gedanken zu berichten. Davon, dass die Bauern gemeinsam ihre Ernten vermarkten und günstiger einkaufen könnten. 

„Was halten Sie davon?“, fragte er Fuchs schließlich. Der wiegte den Kopf. „Herr Doktor“, sagte er. „das klingt zu gut, um wahr zu sein. Wo ist der Haken? Was sind die Bedingungen?“ „Einen Haken gibt es eigentlich nicht“, sagte Deisting. „Jeder Bauer oder jeder Hof leistet einen kleinen Beitrag, die sogenannte Einlage.“ „Hmmm“, machte Fuchs. „Und wie soll das gehen? Wir kommen ja so schon kaum über die Runden.“ Deisting nickte verständnisvoll. „Ja, ich weiß“, sagte er. „Vielleicht denken Sie trotzdem einmal darüber nach. Alle beteiligten Bauern würden sich gegenseitig unterstützen. Einer für alle, alle für einen.“ Der Bauer versprach, sich Gedanken zu machen und Deisting kündigte an, dass die Bauern bald zu einer Versammlung eingeladen würden. 

Der Doktor beglückwünschte sich zu seinem Geistesblitz. Er hatte gar nicht damit gerechnet, gleich auf Begeisterung zu stoßen. Doch so konnte er zumindest jene Bauern, mit denen er in seiner Praxis zu tun hatte, schon mal mit dem genossenschaftlichen Gedanken vertraut machen. Er rieb sich die Hände. Draußen auf der Bank hatte er Hertha Klugmann gesehen, wie immer in Begleitung ihres Mannes. Da waren ja schon die nächsten Kandidaten.   


Friedrich Deisting (1855-1923)

Friedrich Deisting wurde in Mölln geboren, als 9. von 10 Kindern. Ein Studium wäre unter normalen Umständen für ihn nicht möglich gewesen, doch sein Fleiß bescherte ihm einen Freiplatz, um Medizin in Berlin zu studieren. Als junger Arzt kam er 1880 mit seiner Frau Anna aus Berlin nach Kierspe und eröffnete eine Praxis. Hier wurden ihm die existenziellen Nöte der zumeist bäuerlichen Bevölkerung schnell klar. 

Er unterstützte sie, indem er niedrige Rechnungen ausstellte, wodurch er und seine Frau selbst lange in bescheidenen Verhältnissen lebten. Sein Ziel war aber auch die langfristige Verbesserung der Verhältnisse. Daher gründete er über die Jahre, zum Teil gemeinsam mit anderen, die Bäuerliche Bezugs- und Absatzgenossenschaft, die Molkerei und den Bauverein. 1901 war er an der Gründung der örtlichen Spar- und Darlehenskasse beteiligt und 1907 wurde er selbst nebenbei Unternehmer, indem er die Elektrotechnische Fabrik Dr. Deisting & Co. eröffnete. Lange war seine Firma das größte Unternehmen in Kierspe. Gegen Ende seines Lebens verfasste Dr. Deisting, inzwischen zum Sanitätsrat avanciert, ein Werk über die Geschichte Kierspes.
 



Wusstest du schon, dass ...

… Friedrich Deisting 1883 den Sauerländischen Gebirgs-Verein (SGV), Abteilung Kierspe gründete?

… er im April 1900 maßgeblich an der Gründung der Bäuerlichen Bezugs- und Absatzgenossenschaft in Kierspe beteiligt war?

… er sich 1901 für die Gründung der Spar- und Darlehenskasse einsetzte, die heute die Volksbank Kierspe ist?

… er im Juni 1903 auch die Gründung der Molkereigenossenschaft unterstützte? 

… die Institutionen in direkter Nachbarschaft zueinander lagen und die Bauern, nachdem sie ihre Erzeugnisse abgeliefert hatten, gleich ihre Einkäufe tätigen und Bankgeschäfte erledigen konnten.

… er im Januar 1907 die Elektrotechnische Fabrik Dr. Deisting gründete, um vor Ort Arbeitsplätze für die verarmte Bauernschaft zu schaffen?

… er im Juni 1907 den Bauverein Kierspe mitgründete?

… er auch seiner Heimat stets treu blieb und Mitglied des Heimatbunds sowie des Geschichtsvereins Herzogtum Lauenburg war?

… er nebenbei 30 Jahre zur Geschichte von Kierspe forschte und das Buch „Geschichte der Land- und Kirchengemeinde Kierspe" kurz vor seinem Tod fertigstellte? Es erschien im Jahr 1925.




So sah es zu Zeiten Friedrich Deistings bei uns aus

Hier und da findest du in Kierspe noch Gebäude, die es zu Lebzeiten des Doktors bereits in Kierspe gab:


Hinweis

Die Geschichte bedient sich biografischer Details von Dr. Friedrich Deisting, seiner Frau Anna sowie weiterer Zeitgenossen. Dennoch sind sie hier Kunstfiguren, ebenso wie die erfundenen Patienten und Patientinnen.

Innerhalb des belegten historischen Rahmens sind Beschreibungen, Handlungen und Situationen aller Figuren fiktiv.


Literatur

Heimatverein Kierspe, 120 Jahre Volksbank in Kierspe -  Die Geschichte der Kiersper Genossenschaften, in: Werkstatt Geschichte, Band 27, Kierspe, 2021

Lisa-Marie Weber, Bücher statt Brot: Dr. Deisting setzt Prioritäten, unter come-on.de, erschienen am: 13.08.2010, online verfügbar unter: https://www.come-on.de/volmetal/kierspe/buecher-statt-brot-deisting-setzt-prioritaeten-877477.html, letzte Überprüfung: 5. Oktober 2023

Eintrag Berufsgenossenschaften, Abschnitt Geschichte unter Wikipedia, online verfügbar unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Berufsgenossenschaft#cite_ref-75_Jahre_BGW_16-0, letzte Überprüfung: 5. Oktober 2023

Eintrag Raiffeisen unter Wikipedia, online verfügbar unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Raiffeisen, letzte Überprüfung: 5. Oktober 2023

Eintrag Friedrich Wilhelm Heinrich Raiffeisen unter Wikipedia, online verfügbar unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Wilhelm_Raiffeisen#cite_note-33, letzte Überprüfung: 5. Oktober 2023

Kiersper Geschichte auf der Website der Stadt Kierspe, online verfügbar unter: https://www.kierspe.de/de/stadt/menschen-und-geschichte/geschichte-kierspe.php, letzte Überprüfung: 5. Oktober 2023

 

Text: Sabine Schlüter - Die flotte Feder

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