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Kierspe und das Bakelit®

Wie im ganzen Märkischen Sauerland spielte die Eisengewinnung und -verarbeitung in Kierspe lange Zeit eine große Rolle. Entlang der Fluss- und Bachläufe waren kleine Schmelzöfen, Hämmer und Schmieden zu finden, die sich die Wasserkraft bei der schweren Arbeit zunutze machten. Mit der Industrialisierung fanden viele kleine Betriebe ihr Ende. Doch als zu Beginn des 20. Jahrhunderts der erste vollsynthetische Kunststoff erfunden wurde, begann in Kierspe eine neue Ära.


Es zischt und qualmt, klopft und hämmert im Schleiper Hammer. Wie jedes Jahr am Tag des offenen Denkmals sind die Tore des historischen Gebäudes geöffnet. Die alte Schmiede am Ufer der Schleipe ist heute ein technisches Museum des Heimatvereins Kierspe. Und was für eins. Ein Museum wie eine Werkstatt – zum Staunen und zum Mitmachen. Es zeigt stellvertretend für weitere Hämmer, die sich über Jahrhunderte am Zufluss der Volme entlang zogen, wie dort gearbeitet wurde. 

Schmelzöfen stellten aus Roheisen den damals weltberühmten Osemund, ein besonders weiches Eisen, her. Genutzt wurden dafür von Wasserkraft betriebene Gebläse. In den Osemundhämmern wurde das Eisen ebenfalls mit Unterstützung der Wasserkraft weiterverarbeitet. 

Lange Zeit bot dies den Menschen ihr Auskommen – bis die uralten Methoden nicht mehr konkurrenzfähig waren. So verlegte man sich in den Hämmern auf die sogenannte Breiteware, also Spaten, Schaufeln und ähnliches. Wie das funktionierte, zeigen einige Mitglieder des Heimatvereins ihren Besucher an den Öffnungstagen des Schleiper Hammers. Auch heute wird dazu bereits morgens die Esse angeheizt, damit das Feuer die richtige Temperatur für die Vorführungen hat. Jetzt können die Schmiede das Eisen zum Glühen bringen und anschließend von Hand oder mit etwas altertümlich wirkenden Maschinen, den Feder- oder Fallhämmern, bearbeiten. Dabei dürfen auch kleine und große Zuschauer Hand anlegen und zum Beispiel bei der Produktion von Haken oder Nägeln mitwirken. 



Zeit für ein neues Material

So schön es in unseren Zeiten ist, ein handwerkliches Produkt aus Eisen entstehen zu sehen und vielleicht sogar daran mitzuwirken: Auch diese Verfahren wurden irgendwann durch die industrielle Metallverarbeitung überholt und von größeren Betrieben übernommen. Wieder blieben einige Hämmer auf der Strecke. Wieder mussten sich die Menschen neu orientieren. Auch im Schleiper Hammer krempelte man die Ärmel hoch, nahm sich den innovativsten Betrieb in Kierspe zum Vorbild, setzte auf ein brandneues Material und rüstete sich für die Zukunft. 

Das Material war der erste synthetische Kunststoff, den der belgische Chemiker Leo Hendrik Baekeland zu Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA erfunden hatte. Sein Name: Bakelit. Der Kunststoff isolierte, war form- und säurebeständig – zur damaligen Zeit war er der vielseitigste und vielversprechendste Werkstoff, den es gab. Von 1.000 Möglichkeiten war die Rede. Sie reichten vom Maschinenteil bis zum Haushaltsgerät, von isolierenden Elementen für Elektroanlagen bis zu künstlichem Bernstein.  

In Kierspe hatte die elektrotechnische Firma Dr. Deisting, das größte Unternehmen im Ort, Bakelit früh für sich entdeckt. Es wurde der örtliche Pionier für Kunststoff-Produkte. Insbesondere wegen seiner Robustheit, seiner außerordentlichen Isolierfähigkeit und seines relativ günstigen Preises war Bakelit die perfekte Alternative zu den teureren Produkten aus Porzellan oder Keramik, aus denen elektrotechnische Artikel bis dato gefertigt worden waren. Das Unternehmen begann, die Produktion umzustellen. Die ersten Werkzeuge wurden entwickelt und die Pressen im benachbarten Meinerzhagen gefertigt. 

Wie das Prinzip funktionierte, lässt sich im Schleiper Hammer genau verfolgen. Denn hier stehen mehrere historische Pressen der Firma Battenfeld aus Meinerzhagen. Am Tag des offenen Denkmals sind sie im Dauereinsatz. Ein Kunststoffexperte des Heimatvereins Kierspe presst aus geheimnisvollen roten und grauen Pulvern ein Produkt nach dem anderen. Die Kombination aus Hitze und Druck verwandelt das Pulver „Simsalabim“ in feste Formen. Anschließend setzt der Experte je zwei Teile zusammen, schleift und poliert sie: Fertig sind praktische Mitbringsel aus dem Schleiper Hammer.   



In Kierspe setzte der richtige Boom für das Unternehmen Dr. Deisting Ende der 1920er Jahre ein, als Baekelands Patente ausliefen. Viele Kiersper Unternehmen – auch der Schleiper Hammer – folgten dem Beispiel Dr. Deistings und setzen auf Bakelit oder wurden neu gegründet. Heute würde man von Start-ups sprechen.

In den 1930er Jahren entwickelte sich Kierspe gemeinsam mit Lüdenscheid und Schalksmühle deshalb innerhalb kurzer Zeit zu einem Zentrum der Kunststoffproduktion. Allein in Kierspe stellten damals 36 Betriebe mit rund 450 Kunststoffpressen ganz unterschiedliche Kunststoffprodukte her. Dr. Deisting produzierte neben den berühmten Dickhäuter-Lichtschaltern inzwischen auch KFZ-Zubehör, wie zum Beispiel ein Armaturenbrett für den Autohersteller DKW. 


Schönes Design hat Hochkonjunktur

Nicht nur Dr. Deistings Dickhäuter gelten heute als Beispiel für gelungenes Design. Mit dem unverwüstlichen Bakelit waren der Entwicklung und Produktion schöner Dinge in großen Stückzahlen praktisch keine Grenzen gesetzt. Auf Schreibtischen prangten schwarze Telefone, dunkle Bleistiftspitzer, Stifthalter, Löschpapierrollen und Zettelkästen. Im Wohnzimmer stand das formschöne Radio neben dem Lampenklassiker und auch sonst erleichterten die vielen kleinen und großen Bakelit-Erzeugnisse mit dem besonderen Griffgefühl den Alltag. 



Doch bald ging auch die große Zeit des Bakelits für Alltagsprodukte vorüber. Neue Kunststoffe wurden entwickelt und verdrängten Bakelit aus dem Alltag. Die Unternehmen orientierten sich um, setzten auf die neuen Materialien. In Kierspe jedoch blieb neben der Metallverarbeitung die Kunststoffindustrie als wichtiger Wirtschaftszweig erhalten. 

Heute entdeckt man die alten Dickhäuter von Dr. Deisting noch manchmal in Altbauten. Ansonsten sind viele Bakelit-Produkte zu begehrten Sammlerobjekten geworden. Zum Glück, denn zwei gestiftete Bakelit-Sammlungen bilden den umfangreichen Grundstock der wunderschönen Ausstellungen mit wechselnden Exponaten im Bakelitmuseum in Kierspe


Du hast Interesse an Design-Ikonen aus Bakelit?

Im Bakelitmuseum in Kierspe erwarten dich wechselnde Ausstellungen mit so manchem optischen Highlight. Darunter formschöne Rundfunkempfänger, Schreibmaschinen, Büroeinrichtungen, Telefone und Diktiergeräte. Oder Haushaltsgeräte wie Waagen, Uhren und ein ganz besonderer Staubsauger. Außerdem Wohnaccessoires aus dem Art Déco wie Leuchten, Schalen, Aschenbecher oder Salz- und Pfefferstreuer sowie aus späterer Zeit die berühmte Tischlampe „Bolide“ der französischen Firma Jumo Brevete




Dr. Friedrich Deisting: Kierspes Förderer in allen Belangen

Der Mediziner Dr. Friedrich Deisting (1855-1923) kam als junger Arzt nach Kierspe. Da er die existenziellen Nöte der bäuerlich geprägten Bevölkerung früh erkannte, setzte er sich von Anfang für eine Verbesserung der Verhältnisse ein. Zum einen berechnete er für seine Behandlungen nur ein Minimum. Zudem trieb der vielseitig interessierte und informierte Mensch Einrichtungen für die Absatzmöglichkeiten und die soziale Absicherung der Kiersper Bürger voran.

So gründete er die Bäuerliche Bezugs- und Absatzgenossenschaft, die Molkerei, den Bauverein und die Spar- und Darlehenskasse. Im Jahr 1908 baute er schließlich die Elektrotechnik-Firma Dr. Deisting auf, um vor Ort Arbeitsplätze zu schaffen. Es war lange Zeit das größte Unternehmen in Kierspe. Der nimmermüde Sanitätsrat verfasste schließlich auch noch eine fundierte Zusammenfassung der Geschichte Kierspes, die er kurz vor seinem Tod fertigstellte. 



Wusstest du schon, dass ...

… Bakelit 1907 vom belgischen Chemiker Leo Hendrik Baekeland in den USA erfunden wurde? 

… es der erste synthetische, duroplastische Kunststoff war?

… in den 1930er Jahren allein in Kierspe 36 Unternehmen mit mehr als 450 Pressen Bakelit-Produkte herstellten?

… in Kierspe bis heute zahlreiche Unternehmen Produkte aus unterschiedlichsten Kunststoffen produzieren?

… das deutsche Partnerunternehmen von Baekeland nach dem Zweiten Weltkrieg nach Iserlohn-Lethmate umzog, wo das Nachfolgeunternehmen Bakelite GmbH bis heute ansässig ist?

… Bakelit noch immer in Bereichen verwendet wird, die starke mechanische und thermische Belastbarkeit, geringe Entflammbarkeit und chemische Beständigkeit fordern?


Hier liegt der Schleiper Hammer am Rad- oder Wanderweg

Das Schleipe-Tal ist heute ein Naturschutzgebiet, das du auch zu Fuß und mit dem Rad gut erkunden kannst. Am Wegesrand findest du neben dem Schleiper Hammer auch die Reste weiterer Schmelzöfen, Schmieden und Hämmer aus früherer Zeit.  


Literatur

Text: Sabine Schlüter - Die flotte Feder

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