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Ein Mann mit Idealen

Gustav Selve geht in Altena seinen eigenen Weg


Ende März 1895. Basse & Selve ist ein äußerst erfolgreiches Unternehmen mit Sitz und mehreren Werken in Altena sowie weltweiten Verbindungen. Gustav Selve, der Sohn eines der Gründer, hat es mit viel Sinn für Innovationen und Mut zum Risiko zu einem der erfolgreichsten Hersteller von Messing-, Nickel- und Aluminiumprodukten im Deutschen Reich gemacht.

Dabei ist Selve ein sozialer Unternehmer, der stets das Wohl seiner Belegschaft und den Fortschritt der Region im Blick behält. Umso weniger versteht er, warum manche seiner Neuerungen wenig Anklang finden. 


Unwillig klopfte Gustav Selve auf den Kopf seines Frühstückseis. Er hatte schlecht geschlafen. Die Geschichte um sein Stauwehr an der Lenne zog sich jetzt schon seit mehr als einem halben Jahr hin. Sein Werk Hünengraben sollte damit deren Wasserkraft besser ausnutzen. Doch es gab Bedenken seitens der Kommune, die Hochwasser befürchtete. Und es gab Einwände seitens einzelner Drahtproduzenten, deren Werke flussabwärts an der Lenne lagen. Jene waren sicher, dass die Lenneströmung durch ein Wehr weiter unten für den eigenen Bedarf an Wasserkraft zu schwach würde. 

Was er nicht verstand, denn schließlich wollte er die Lenne nicht permanent stauen, sondern mit einem Nadelwehr regulieren. Doch die Konzession, die er letztes Jahr, 1894, beantragt hatte, war ihm bisher nicht erteilt worden. Er warf die Serviette auf den Tisch, erhob sich und nahm auf einem der beiden Sessel im Erker Platz. Die Zeitung lag bereit, das Mädchen brachte ihm einen weiteren Kaffee und eine Zigarrenauswahl. Von hier aus blickte er flussaufwärts über die Lenne. Noch waren die Bäume an den Hängen kahl. Oben vom Türmchen aus könnte er bis zum Werk Lennestein sehen.


Lektüre am Morgen


Während er sich eine Zigarre anzündete, studierte er die Titelseite. Italien kämpfte noch immer in Äthiopien, sein italienisches Werk würde sicher Nachschub an Patronenhülsen produzieren müssen. Er las die Seite 2, in der Hauptstadt lief alles seinen Gang. Auf Seite 3 fand er einen interessanten Artikel über die Anstrengungen von Carl Berg, der von Lüdenscheid aus den Luftschiffbauer David Schwarz unterstützte – Aluminium war das Zaubermaterial. Selve selbst war nach einer längeren Versuchsphase mit der Aluminiumproduktion inzwischen ebenfalls auf einem guten Weg.

Auf derselben Seite verwies eine Anzeige auf die Deutsch-Nordische Handels- und Industrie-Ausstellung in Lübeck, die von Juni bis September des Jahres stattfinden sollte. Einer der Ausstellungsschwerpunkte war Marinebedarf. Über eine Teilnahme war daher durchaus nachzudenken. Jedoch müsste man sich wahrscheinlich sputen, um dort noch mit von der Partie zu sein. 

Genug der Lektüre für heute, befand Selve und legte die Zeitung beiseite. Er hatte sich mit seinem Generalbevollmächtigten Ashoff wegen des Wehrs abzustimmen, damit dort etwas voranging. Dass ihm so viele Steine in den Weg gelegt wurden, verstand er nicht. Nicht nur wegen des Wehrs, man warf ihm auch vor, dass seine Werke – insbesondere die Nickelproduktion in Schwarzenstein - schädliche Emissionen verursachten. Dabei hatte er viel getan für diese Stadt und er hatte noch viel vor, es ging ihm um das wirtschaftliche Gedeihen der ganzen Region. Nicht von ungefähr engagierte er sich politisch auch als Stadtverordneter. König von Altena nannten ihn die Leute unter anderem deswegen. 

Wobei sein ganz besonderes Engagement dem Wohlergehen seiner Mitarbeiter galt: Von Wohnraum über Betriebskrankenkasse bis zum Unterstützungsfonds hatte er in den vergangenen Jahrzehnten die besten Rahmenbedingungen für seine Leute geschaffen. Und im Central-Verein für das Wohl der arbeitenden Klassen setzte er sich für eine generelle Verbesserung der Verhältnisse ein. 


Selve machte sich auf den Weg und traf wenig später im Werk Hünengraben auf Ashoff. Vor Ort begutachteten sie gemeinsam mit einem Fachmann aus dem Werk zum wiederholten Mal die geplante Lage des Nadelwehrs und konnten daran nichts Hinderliches entdecken. Sie besprachen nochmals die Details zu den aktuellen Einsprüchen. Unter vier Augen gab Ashoff später allerdings seiner Befürchtung Ausdruck, dass es nicht die letzten Hindernisse für die Konzession gewesen sein könnten. Doch von Selve erhielt er lediglich die Order, für zügige Klärung zu sorgen.



Engagiert bis ins Detail


Der Unternehmer verließ das Werk und fuhr von der Lenneschleife mit dem Einspänner einmal quer durch Altena – vorbei an seiner Villa, die man in Altena Villa Alpenburg nannte, über die Steinerne Brücke, am Werk Lennestein entlang. Er gelangte zum Werk Schwarzenstein, wo er sich im Tagesgeschäft ausführlich kaufmännischen Angelegenheiten widmete. Nach einem arbeitsreichen Tag und einem Abend im Kreise der Familie war diese Nacht geruhsamer. 

So war seine Laune am nächsten Morgen erheblich besser als am Vortag. Er genoss nach dem Frühstück seinen Kaffee und seine Zigarre im Erker. Da die Sonne schien, beschloss er, heute alle Werke in und um Altena einer Kurzinspektion zu unterziehen. Er blieb gerne in die Produktionsprozesse involviert, nur so konnte er Verbesserungen und innovative Ideen entwickeln. Außerdem war es nie verkehrt, seinen Beamten und Arbeitern gelegentlich auf die Finger zu schauen. Aktuell interessierten ihn besonders die Fortschritte bei der Aluminiumverarbeitung. Gerade wollte er die Zeitung zusammenfalten, als ihm auf Seite 4 eine kleine Notiz ins Auge fiel. 

Der 80ste Geburtstag seines großen Idols, Otto von Bismarck, stand kurz bevor – am 1. April 1895. Im Reichstag hatte es eine Abstimmung darüber gegeben, ob ihm ein offizielles Glückwunschtelegramm zu senden sei. Das Ansinnen war abgelehnt worden! Gustav Selve war fassungslos, er schüttelte den Kopf. Die Verdienste Bismarcks mussten doch anerkannt werden! Dieser Mann, dessen Wirtschafts- und Schutzzollpolitik er so geschätzt hatte. Und der sich bei der Sozialgesetzgebung auch vom sozialen Engagement von Unternehmern wie ihm hatte inspirieren lassen. Er schüttelte nochmals den Kopf. Respektlos war das. 

Selve selbst würde auf jeden Fall hochachtungsvoll gratulieren! Das Telegramm würde er bei seinem Sekretär unverzüglich in Auftrag geben, damit es rechtzeitig zugestellt würde. Daher beschloss er, seine Inspektionsrunde im Werk Schwarzenstein zu beginnen, wo er sein Büro hatte. Dann könnte das Telegramm am Montag ohne Verzögerung aufgegeben werden. Und er könnte seine Besichtigungen dann im Werk Lennestein fortsetzen, das sowieso in unmittelbarer Nähe lag. Im Anschluss würde er Linscheid und das Werk Hünengraben besuchen. Ob er am Montag noch eine Visite im Werdohler Stammwerk Bärenstein einlegen würde, könnte er sich am Abend überlegen. Wieder ließ er den Einspänner anspannen und machte sich wie geplant auf den Weg. Die frische Luft würde ihm guttun.




Ein Gedankenblitz mit Folgen


Als er abends in die Lüdenscheider Straße zurückkehrte, war er weitgehend zufrieden mit den Abläufen in seinen Fabriken. Kleinigkeiten waren immer zu verbessern, aber zumindest hatte er heute keine großen Fehler entdeckt. Nach dem Abendessen mit der Familie saß er in seinem Erker, in der Rechten eine Zigarre, in der Linken zur Feier des Sonnabends einen Cognac – und ließ die Woche und den Tag Revue passieren. Er dachte an Otto von Bismarck und die schmachvolle Abstimmung im Reichstag. Wieder schüttelte er den Kopf. Man sollte ein Zeichen setzen.

Draußen dunkelte es, der Lichtkegel der Gaslaterne war weit entfernt. Doch Selve kannte die Aussicht. Den schmalen Streifen Land auf der anderen Straßenseite, bevor das Gelände steil zur Lenne abfiel. Das wäre der perfekte Platz! Zumal er das Ganze stets im Blick hätte. Lächelnd lehnte er sich zurück und zog genüsslich an seiner Zigarre. Genau dort würde er ein Bismarck-Denkmal bauen lassen. Schon am Montag würde er die entsprechenden Vorbereitungen treffen. Das wäre ja noch schöner, wenn dieser Mann nicht geehrt würde. Dann eben in Altena in Westfalen.  



Gustav Selve (1842-1909)

Gustav Selve wurde 1842 als ältester Sohn des Landwirts und Mühlenbesitzers Hermann Dietrich Selve und seiner Frau Anna Katharina geboren. Hermann Dietrich Selve gründete 1861 gemeinsam mit Manufakturwarenhändler Carl Basse das Messingwalzwerk Basse & Selve in Bärenstein (Werdohl). Nach Ausbildungen an der Iserlohner Gewerbeschule, im Handelshaus Josephon & Quäbicker sowie in der Maschinenfabrik Gerhardi trat Gustav Selve kurz nach der Gründung von Basse & Selve ins Unternehmen ein.

Schnell zeigte er sein Geschick in geschäftlichen Dingen, legte den Fokus zunächst auf Patronenhülsen, später auch auf Münzen. 1868 erhielt er erstmals Aufträge für Patronenhülsen aus der Schweiz, wenig später folgten Aufträge aus Italien. Als die Bärensteiner Produktionskapazitäten nicht mehr ausreichten, kaufte Basse & Selve ein stillgelegtes Werk am Schwarzenstein in Altena. Ab 1869 war der Firmensitz Altena. Als nach der Gründung des Deutschen Reichs 1871 die Mark bisherige Währungen ablöste, erhielt Gustav Selve den Zuschlag für die Produktion der Rohlinge für 1-, 2-, 5- und 10-Pfennig-Münzen. Ab 1872 war er Teilhaber und Geschäftsführer des Unternehmens.

In der Nickelverarbeitung für die Münzen musste er zunächst in einer eigens gebauten Nickelhütte Erfahrungen sammeln, bei denen es auch zu Rückschlägen kam. Letztlich wurde seine Nickelhütte zur größten Deutschlands. 1883, nach dem Tod seines Vaters war er Alleininhaber – die Erben Basse hatten sich aus dem Geschäft zurückgezogen. Als weiteren Werkstoff nahm er in den 1890er Jahren Aluminium hinzu und wurde später u.a. zum Lieferanten des Luftschiffbauers Ferdinand Graf von Zeppelin.

Gustav Selve führte das Unternehmen mit strenger Hand, doch er erkannte seine Fürsorgepflicht und die Bedeutung von Fachpersonal für sein Unternehmen früh. Daher engagierte sich besonders stark für seine Mitarbeiter. Er begann 1879 mit betrieblichem Wohnungsbau als Grundlage, schuf aber darüber hinaus eine Speiseanstalt, Bäder und Metzgereien für seine Leute. Im Laufe der Jahre führte er u.a. eine Betriebskrankenkasse, eine Fabriksparkasse, Konsumanstalten sowie Unterstützungsfonds für soziale Härtefälle ein.

Viele Leistung bot er schon, bevor die allgemeine Sozialversicherungspflicht eingeführt wurde. Dafür forderte er höchste Leistungen und „Treue um Treue“, so sein Wahlspruch. Doch er engagierte sich nicht nur für seine Belegschaft. 1896 stiftete er 100.000 Mark für den Bau der ersten Lungenheilanstalt des Landes in Lüdenscheid-Hellersen. Träger war der Kreis Altena.

Nach seinem Tod setzte ihm seine Arbeiterschaft, die er sogar in seinem Testament bedachte, ein Denkmal. 37.000 Mark an Spenden wurden dafür gesammelt. Das Gustav-Selve-Denkmal befindet sich in Altena an einer markanten Stelle auf einem Bergsporn, westlich der Steinernen Brücke, über der Lenne. Von hier aus hätte Selve sowohl sein Wohnhaus in der Lüdenscheider Straße als auch seine Industrieanlagen in südlicher Richtung im Blick gehabt.



Wusstest du schon, dass ...

… Gustav Selve 1872 Maria Fischer, die Tochter eines Lüdenscheider Fabrikbesitzers heiratete, mit der er zwei Töchter und zwei Söhne hatte?

… er mit der Familie 1874 in sein neu gebautes Haus in die Lüdenscheider Straße nach Altena zog, hinter dem er einen weitläufigen Garten anlegen ließ?

… er tatsächlich 1895 ein Bismarck-Denkmal gegenüber seinem Haus errichten ließ? 11.000 Mark kostete ihn das Unterfangen. Das kupferne Denkmal wurde übrigens während des Ersten Weltkriegs abgebaut und für Waffen eingeschmolzen.

… sein Haus wegen der vielen Schnörkel und Türmchen den Spitznamen Villa Alpenburg hatte?

… das Unternehmen Basse & Selve unter der Leitung von Gustav Selve immer weiter expandierte?

… es mehrere Werke in Altena sowie Werke in Lüdenscheid, Werdohl und Hemer hatte?

… es außerdem Werke im Rheinland, in Sachsen und in Ostpreußen sowie in der Schweiz und in Italien hatte?

… es um die Jahrhundertwende 2.400 Arbeiter hatte und bei den Messing verarbeitenden Betrieben die Nummer 3 war? 

… sich die Genehmigung des Nadelwehrs bis zum Jahr 1900 hinzog und das Unternehmen die Konzession nur unter Auflagen erhielt?

… die Dauer dieses Verfahrens neben den Konflikten um die Emissionen und die betrieblichen Konsumanstalten Gustav Selve den Altenaern immer mehr entfremdete? Letztlich gab der Streit um eine Stromleitung zu seiner Villa den Ausschlag, warum er 1896 seinen Wohnsitz in Altena aufgab. 

… Gustav Selves Mitarbeiter nach seinem Tod 37.000 Mark für ein Denkmal sammelten? Anders als das Bismarck-Denkmal kannst du es heute noch besuchen. 



Denkmal am Wegesrand

Das Gustav-Selve-Denkmal liegt auf einem Bergsporn zwischen Lenne- und Rahmedetal in Altena. Du kannst es zum Beispiel besuchen, wenn du auf einem unserer Wander- und Radwege unterwegs bist.


Folgende Touren verlaufen in der Nähe:


Hinweis

Die Geschichte bedient sich biografischer Details von Gustav Selve. Dennoch ist er hier eine Kunstfigur.

Innerhalb des belegten historischen Rahmens sind Beschreibungen, Handlungen und Situationen aller Figuren fiktiv.


Literatur

Andreas Daniel, Zur Entstehung der „Volksheilstätten“ (Lungensanatorien) Hellersen bei Lüdenscheid und Ambrock bei Hagen (eröffnet 1898 und 1903), in: Der Märker – Heimatblatt für die ehemalige Grafschaft Mark, Heft 3/1990, S. 113-118, Altena, 1990

Ulrich Barth, Das Denkmal für den Industriellen Gustav Selve (1842–1909) in Altena, in: Denkmalpflege in Westfalen-Lippe, Jahrgang 2007, Heft 1, S. 24–27, Münster, 2007

Ralf Stremmel, Gustav Selve – Annäherungen an einen Großindustriellen und märkischen Wirtschaftsbürger im Kaiserreich, in: Der Märker – Heimatblatt für die ehemalige Grafschaft Mark, Heft 1/2002, S. 5-19, Altena, 2002

Ralf Stremmel, Gustav Selve. Ein Großindustrieller im Deutschen Kaiserreich, in: Der Reidemeister, Geschichtsblätter für Lüdenscheid Stadt und Land, Nr. 180 vom 3. November 2009, S. 1481–1486, Lüdenscheid, 2009 

Ralf Stremmel, "Selve, Gustav", in: Neue Deutsche Biographie 24 (2010), S. 231-232 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd189539097.html#ndbcontent, zuletzt abgerufen am 16. Juni 2023
 

Text: Sabine Schlüter - Die flotte Feder

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