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Lady Innovation

Anna von Landsberg bringt das Hüttenwesen nach Wocklum


Heute ist der Ort bekannt als Luisenhütte. Doch der passendere Name wäre eigentlich Annahütte. Oder Marienhütte. Oder Theresienhütte. Denn gegründet wurde der Wocklumer Hammer bzw. die Eisenerzhütte in Balve-Wocklum von Anna Maria Theresia Freifrau von Landsberg zu Erwitte, geborene von Recke zu Steinfurt.

1732 hatte sie Franz Casper Ferdinand, Freiherrn von Landsberg zu Erwitte geheiratet, der mit päpstlicher Erlaubnis zum Familienerhalt den Stand des Geistlichen aufgegeben hatte. Das Unterfangen gelang. Doch ganz nebenbei eröffnete Anna von Landsberg der Familie in ihrer neuen märkischen Heimat auch frische unternehmerische Perspektiven. 1739 steckte sie mitten in den Planungen. 


Clemens August und Johann Matthias tollten über den Millimeter kurzen Rasen. Das Kindermädchen rief die Jungen zur Ordnung, nahm Clemens August an die rechte, Johann Matthias an die linke Hand und führte sie zurück ins Schloss. Bald würde der Hauslehrer eintreffen und die beiden unter seine Fittiche nehmen. Höchste Zeit, dass der Stammhalter und sein kleiner Bruder etwas Disziplin lernten. 

Anna beobachtete die Szene aus der Distanz. Im Schatten eines Baumes saß sie vor einem Bauplan, in der Rechten einen Bleistift. Ihr Gatte, Franz Casper Ferdinand Freiherr von Landsberg zu Erwitte, hatte begonnen, den vollständigen Umbau des heimischen Schlosses zu planen. Zweigeschossig sollte es werden, mit prachtvollen Salons und Gemächern.

 

Mehr Platz für die stetig wachsende Familie sollte es bieten. Er ließ Anna an den Planungen teilhaben, legte Wert auf ihre Meinung. Und so machte sie von Zeit zu Zeit Vorschläge. Vor allem, wenn ihr etwas zu sakral erschien. 

Denn die Prägung durch seine jahrzehntelange Tätigkeit als Kleriker ließ sich nicht verhehlen. So hatte Anna bei der Neugestaltung der Schlosskapelle eine gewisse Schlichtheit angeregt. Wocklum sei schließlich nicht Rom. Beide einigten sich auf in Stuck gearbeitete Amphoren mit Blüten an der Decke und figürlich ausgearbeitete Evangelisten in den vier Ecken des Raumes. Putten allerdings wurden weitgehend aus den Entwürfen gestrichen. Nur über dem Altar würde es einige geben.  

Pläne greifen ineinander

Sieben Jahre währte ihre Ehe mit dem 40 Jahre älteren Franz Casper nun bereits. Um ein Haar wäre sein Familienzweig ausgestorben, doch davon konnte jetzt keine Rede mehr sein. Andererseits hatte man nie genug männliche Erben. Vorsichtig erhob sich Anna von ihrem Platz, rollte den Plan zusammen und ging, die Linke von hinten in die Hüfte gestützt, gemessenen Schrittes zum Schloss. Am Morgen hatte sie wie gewöhnlich die Köchin und die Dienerschaft instruiert. Heute sollte üppiger getafelt werden als sonst, denn man erwartete verwandtschaftlichen Besuch: Sie hatte Wilhelm Christian von der Reck, einen Verwandten aus der Stockhäuser Linie in Lübbecke eingeladen. Bis dahin wollte sie sich ihren eigenen Projekten widmen.

Eines der Dienstmädchen kam ihr auf der Freitreppe entgegen, bereit, sie zu stützen. Doch Anna lehnte ab, fühlte sich weder krank noch gebrechlich. Stattdessen gab sie dem Mädchen den Plan mit dem Auftrag, ihn dem Sekretär ihres Mannes zu bringen. Das Mädchen knickste und verschwand. Sie selbst stieg die Treppe mit gehobenen Röcken hinauf und begab sich in ihren Salon. 

Der Schreibschrank war ausgeklappt und überhäuft mit Rötel-, Kohle- und Bleistiften, Lageplänen und Zeichnungen von Gebäuden. Daneben hatte sie sich ein großes Stehpult aufstellen lassen, wie sie es bei ihrem leitenden Beamten in der Schreibstube gesehen hatte. Es erleichterte ihr das Arbeiten in Zeiten, in denen sie guter Hoffnung war. Sie nahm den obersten Plan zur Hand und legte ihn aufs Pult. 

Ihre selbst gefertigte Zeichnung war ihr noch immer die liebste. Seit sie nach Wocklum gekommen war, hatte sie immer wieder daran gearbeitet und Details ergänzt. Die Landschaft hatte es ihr sofort angetan. Das milde Tal des Orlebachs am Fuß des Burgbergs. Mittendrin das Wasserschloss der Familie von Landsberg zu Erwitte. Bei ihrer Heirat hätte sie es wahrlich schlechter treffen können. Sofort hatte sie begonnen, täglich spazierzugehen oder auszureiten und die nähere Umgebung zu erkunden. Jede Entdeckung hatte sie auf ihrem Plan festgehalten. 

Franz Casper Ferdinand hatte sie auf den Exkursionen anfangs begleitet, war aber zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, um sich täglich dafür Zeit zu nehmen. Wenn er sich nicht um den Umbau des Schlosses kümmerte, wartete die leidige Erbschaftsangelegenheit, angestoßen von der Frau seines verstorbenen Bruders. Anna Maria von Landsberg, geborene von Galen, genannt die Generalin, hatte sämtliche Güter der von Landsbergs zu Erwitte für ihre Tochter Antonetta Helena und deren Gatten beansprucht. Die Generalin war bereits vor fünf Jahren verstorben, dennoch zogen sich die juristischen Prozesse hin. 

Also machte Anna ihre täglichen Spaziergänge oft in Begleitung ihrer Gesellschaftsdame und des leitenden Beamten oder mit Besuchern aus der Verwandtschaft. Ihre Ausritte unternahm sie am liebsten allein. Wenn Reiten nicht möglich war, ließ sie sich kutschieren. Inzwischen kannte sie jeden Baum, jeden Wasserlauf, jeden Hügel in der näheren Umgebung. Dabei ging es Anna neben der Lieblichkeit der Landschaft mit Bergen, Bächen und Wäldern auch darum, was sich daraus machen ließe. Als geborene von Recke zu Steinfurt entstammte Anna von Landsberg zu Erwitte einer weitverzweigten Familie, in der sich mancher auch mit Bergbau und Eisenverhüttung befasste. 


Das Familienwissen und ihr geschultes Auge hatten ihr schon bald nach ihrer Ankunft und Vermählung im Jahr 1732 verraten, dass der Boden reich an Eisenerz war. An den Ufern der Bäche hatte sie die typischen rotbraunen Spuren des Erzes erkannt und später auch entdeckt, wo entsprechendes Gestein zu finden war. Überhaupt das Wasser: Die sprudelnden Flüsschen Orlebach und Borkebach eigneten sich bestens, um Mühlen zu betreiben. Auch ein Hammerwerk, falls sich die Eisenerzvorkommen als ergiebig erweisen sollten. Zumal die umgebenden Wälder die Holzkohle für die Eisenverhüttung liefern könnten. 

Allem Anschein nach war oben unweit des Borkebachs früher bereits Eisen verhüttet worden. Sie hatte entsprechende Reste gefunden und in ihren Plan eingezeichnet. Ihr heutiger Besucher engagierte sich im Abbau von Erzen. Daher wollte sie das Gelände mit ihm in Augenschein nehmen.



Von Mühlen und Hütten

Der Blick auf den Plan vergegenwärtigte ihr nochmals, welche Orte sie mit ihm besuchen wollte: das Feld, wo sie lose herumliegende Erzbrocken entdeckt hatte und die Relikte einer möglichen früheren Verhüttungsstelle. Sie klopfte mit dem Bleistift auf den Plan und nickte. Doch jetzt konzentrierte sie sich auf mehrere Vierecke, die sie mit Rötelstift zwischen einen Wegesrand und den Borkebach gesetzt hatte. Dann durchsuchte sie den Stapel mit den Zeichnungen auf ihrem Sekretär und zog mehrere Zeichnungen hervor: Fein säuberlich waren dort Gebäude dargestellt – ihre Kornmühle und vor allem ihre Sägemühle. Südlich davon hatte sie eine Senke eingezeichnet, eigentlich ideal als Mühlenteich. Nur machte der Borkebach ausgerechnet dort einen weiten Bogen. 

Ein Diener trat durch die offene Tür und verbeugte sich. „Die Post, Frau Baronin“, sagte er und hielt ihr ein Tablett entgegen. „Danke, Ernfried“, antwortete sie und nahm die Briefe. Das Schreiben vom örtlichen Baumeister hatte Vorrang, denn es sollte eine Aufstellung der Kosten für die Sägemühle enthalten. Und richtig. Fein säuberlich war alles notiert. Noch während sie las, runzelte sie die Stirn, raffte die Röcke und ging mit dem Schreiben in den anderen Flügel, ins Bureau ihres Gatten. Der saß über Zeichnungen gebeugt, während sein Privatsekretär einen Brief schrieb.

„Franz Casper, auf ein Wort, bitte?“, fragte sie und hielt das Schreiben hoch. Er blickte auf und nickte ihr zu. „Die Kosten für die Mühlen“, erläuterte sie knapp und zeigte ihm das Schreiben. Er las den Brief, sah die Summen, hob die Augenbrauen und sah sie an. „Das ist weitaus mehr, als erwartet“, sagte er. „In der Tat, das ist es“, antwortete sie. „Wir würden summa summarum weniger einsparen, als gedacht.“ Denn der ursprüngliche Grund für den Bau des Sägewerks war, alle Balken und Bretter für den Umbau des Schlosses vor Ort aus dem eigenen Holz selbst herzustellen – und anschließend deren Dienste natürlich auch anderen anzubieten.  

„Mir scheint, das Baumaterial fällt am stärksten ins Gewicht“, fuhr er fort und übergab ihr das Schreiben wieder. Sie nahm es und überprüfte, was er gesagt hatte. „Sie haben recht. Das Material und der Transport!“ Nachdenklich blickte sie durchs Fenster in den kleinen Park hinaus. Franz Casper plante, das Gesindehaus durch ein neues Gebäude zu ersetzen. Mit einem Gartensalon und einem Archiv im Obergeschoss. 

Er gesellte sich zu ihr und blickte ebenfalls hinaus. „Brauchen wir für Ihre Mühlen denn neue Steine? Oder könnten wir die Reste des Gesindehauses wiederverwenden?“, fragte er. „Ja, der Gedanke kam mir auch gerade“, sprach sie. „Die Mühlen müssen nicht besonders repräsentativ sein, nur funktionell“, fuhr sie fort, wandte sich ihm zu und lächelte. „Das wäre eine Lösung!“

Er nickte. „Ja, möglicherweise“, sagte er. „Wir sollten es in Ruhe überdenken. Aber sehen Sie.“ Franz Casper deutete in den Park hinunter, wo am Tor jenseits des Schlossgrabens eine Kutsche gehalten hatte. „Unser Gast ist eingetroffen.“


Klare Prioritäten

Auch die Männer wandten den Blick in Richtung des Waldwegs, auf dem sie gekommen waren. Von dort näherte sich ein Reiter in vollem Galopp. Bei der Kutsche kam er zum Halten, das Pferd tanzte auf der Stelle. Ein Bote vom Schloss. „Frau Baronin, der Junker, ihr Sohn …“, rief er. „Mein Sohn? Was ist mit meinem Sohn. So sprecht doch?“, fragte sie alarmiert. „Junker Clemens August, er ist in den Schlossgraben gestürzt!“ „Herr im Himmel“, rief sie aus und eilte zur Kutsche. 

„Schnell, zurück!“, gab sie dem Kutscher Kommando. Der hatte auf der Lichtung glücklicherweise bereits gewendet, sodass man unverzüglich fahren konnte. Mit Rücksicht auf den Zustand der Frau Baronin konnte er die Pferde nicht zu sehr antreiben. Dennoch waren sie schnell am Schloss. Wilhelm Christian half Anna aus dem Wagen. Sofort eilte sie durch den Park, rechts waren einige Dienstboten versammelt. 

Die hohe Gestalt Franz Caspers ragte aus der Gruppe hervor. Das Kindermädchen kniete am Boden, Johann Matthias stand daneben. Tränen liefen ihm über das Gesicht. Auf dem Rasen saß Clemens August, in eine Decke gewickelt, weiß im Gesicht und vor Kälte und Schreck schlotternd. Erleichtert ließ sich Anna neben ihm nieder, umarmte ihn und flüsterte ihm beruhigende Worte zu. Obwohl sie wusste, dass die beiden Jungen schwer zu bändigen waren, warf sie dem Kindermädchen einen strengen Blick zu. 

Ernfried gab sie ein Zeichen, Clemens August in sein Schlafzimmer tragen zu lassen. Das Kindermädchen erhielt den Auftrag, ihn heiß zu baden und anschließend warm im Bett einzupacken. Einer der Dienstboden namens Joseph stand tropfnass am Rand der Gruppe. Franz Casper dankte dem Retter seines Sohnes und ging zurück ins Schloss. Auch Anna dankte ihm und schickte ihn zum Abtrocknen und Umziehen in seine Unterkunft. 

Dann tröstete sie Johann Matthias, der schluchzend an ihrem Rock hing, und nahm ihn auf dem Weg in die Gemächer der Kinder an die Hand. Oben auf der Treppe erinnerte sie sich ihrer Besucher, die sie bei ihrer Ankunft so unhöflich verlassen hatte. Wilhelm Christian stand mit Gruber noch immer nahe dem Tor. Ernfried sollte sich um eine Unterkunft für Gruber sowie um seine Verpflegung kümmern und dessen Pferd versorgen lassen. Ihr Verwandter hatte das Gästehaus ja bereits bezogen. Man würde sich beim Nachtmahl wiedersehen. 

Jetzt jedoch hatte der Nachwuchs Vorrang, auch wenn die drei Kleineren sicher nicht so verstört waren, wie die beiden Ältesten Clemens August und Johann Matthias. Sogar sie selbst musste sich nach dem Schreck erst wieder ein wenig sammeln. So verbrachte sie die nächsten beiden Stunden bei den Kindern, ließ sich dort auch den Tee servieren. Ihr Gatte, dessen war sie gewiss, würde Wilhelm Christian derweil Gesellschaft leisten. 


Eine kleine Exkursion

Anna eilte zurück in ihren Salon und legte den Kostenplan in eine Schublade. Kaum war dies getan, kündete Ernfried ihr den Besuch an. Schnell begab sie sich zur Freitreppe, wo auch Franz Casper wartete. Freundlich empfingen sie Annas Verwandten, Wilhelm Christian von der Reck zu Stockhausen, der die Treppe hinauf kam. Nach der Begrüßung bat Wilhelm Christian, sich zunächst etwas kurz zurückziehen zu dürfen. Ernfried führte ihn ins Gästehaus. Anschließend beschloss man, einige Schritte im Park zu gehen. 

Franz Casper berichtete vom bevorstehenden Umbau des Schlosses, die Planungen seien inzwischen so gut wie abgeschlossen. Schon bald würden die Arbeiten beginnen. Wilhelm Christian wiederum schilderte die Neuerungen, die er am geerbten Familiensitz, Gut Stockhausen, vornahm. Bester Dinge begab man sich zu Tisch und genoss das Mittagsmahl. Während sie speisten, lenkte Anna das Gespräch auf die Bergbauaktivitäten von Wilhelm Christian. 

Der berichtete zwar aus der Verwandtschaft und von eigenen Bergbauaktivitäten, erklärte jedoch künftige Vorhaben für noch nicht spruchreif. Überraschend kündigte er dann an, er habe seinen Fachmann herbestellt, der ihn in allen Fragen des Erzabbaus und der Erzverarbeitung zuverlässig berate und sicher auch Anna gute Dienste leisten würde. Gruber würde in Kürze eintreffen. 

Nach der Mittagsruhe bereiteten sich Anna und Wilhelm Christian also wie geplant auf ihre kleine Ausfahrt vor. Anna hatte sich umgekleidet und ein schlichteres Gewand an- und die Perücke abgelegt. Die Kutsche wartete am Tor. Schließlich traf auch der Fachmann ein, der sie zu Pferde begleiten sollte. Anna begrüßte den Neuankömmling freundlich, der nach dem Absitzen seinerseits mit einer tiefen Verbeugung antwortete. Sie gebot Eile, da es früh dunkeln würde. Ganz in ihrem Element wies sie dem Kutscher den Weg. 

Nicht weit vom Schloss entfernt ließ sie ihn halten, verließ das Gefährt und stieg eine leichte Anhöhe hinauf in ein Schotterfeld. Gerade wollte sie sich nach einigen Gesteinsbrocken bücken, als Wilhelm Christian sie abhielt und seinerseits zwei davon aufhob. Einen reichte er Gruber, einen behielt er in der Hand. „Der Orlebach und der Borkebach führen Wasser mit Spuren von Eisen“, sagte sie. „Sehen Sie hier“, deutete sie auf dunkle Stellen im Gestein. „Dies scheint mir der Grund zu sein - Eisenerz.“ 

Gruber nahm seine Lupe zur Hand, die ihm an einem Band um den Hals hing und begutachtete das Gestein von allen Seiten. Auch Wilhelm Christian betrachtete seinen Klumpen interessiert. „Frau Baronin haben recht!“, sprach Gruber. „Das Gestein enthält zweifelsfrei Eisenerz.“ Er holte einen kleinen Hammer aus seiner Tasche und klopfte auf den Stein, der zerbrach. Eine dunkle Ader zeigte sich. „Erstaunlich, dass es hier oberirdisch zu finden ist.“ „Wie ist es um die Qualität bestellt?“, fragte ihn Wilhelm Christian. 

Gruber sah sich in dem Schotterfeld um, griff nach einem weiteren Brocken und wiegte den Kopf. „Es handelt sich um hohe Qualität, aber bitte erlauben Sie mir zunächst, dieses Feld genauer zu untersuchen.“ „Meint er, eine  Verhüttung ist geboten?“, fragte Anna. „Mit Ihrer Erlaubnis, Frau Baronin, werde ich an verschiedenen Stellen Proben aus tieferen Schichten nehmen. Daran werden wir sehen können, wie ergiebig das Gelände ist“, antwortete Gruber. Anna nickte und schritt zurück zur Kutsche.

Der nächste Halt war nicht weit entfernt. Der Kutscher bremste die Pferde zwischen einer Furt und einer Weggabelung. Dieses Mal verließ Anna den Wagen nicht. Sie zeigte ihren Begleitern lediglich die Richtung, wo die Mühlen entstehen sollten. Anschließend klopfte sie und der Kutscher bog in einen Waldweg ein. Nach einem halben Kilometer stoppte er erneut. Sie hatten eine Lichtung erreicht, die in einer Talmulde lag. An zwei Seiten stieg das waldige Gelände schnell an. Man stieg wieder aus der Kutsche, Gruber saß ab. 

Anna führte die Herren seitlich ins Dickicht hinein und blieb an einem unregelmäßig gemauerten Rund stehen. „Hier ist es“, sagte sie. „Dies sieht mir wie eine aufgelassene Esse aus, oder was meinen Sie?“ Wilhelm Christian zuckte kaum merklich die Achseln, aber Gruber ging in die Hocke. Wieder nahm er seine Lupe zur Hand. Er zerkrümelte den Boden zwischen den Fingern, wiegte den Kopf. „Mit Gewissheit ist das nicht zu sagen, Frau Baronin. Erlauben Sie mir, auch hier Proben zu nehmen?“ 

Anna nickte, sie war gespannt, ob sie mit ihrer Vermutung richtig lag. „Es könnte also ein vormaliger Standort zur Eisenverhüttung sein. Doch mich verwundert, dass sich hier kein Bachlauf findet, den man hätte stauen können. Auf Wasserkraft hat man hier sicher nicht setzen können. Der Borkebach liegt 50 Meter in jener Richtung“, ihr Arm wies gen Westen. „Gehen wir die paar ….“, sie hielt inne und lauschte. 



Unverhoffte Lösung

Während sie an der Seite von Clemens August am Tee nippte, dankte sie Gott für seinen Schutz. Welch ein Glück, dass der Schlossgraben nur mannstief und zudem ein stehendes Gewässer war. Welch ein Glück auch, dass der unerschrockene Joseph gleich zur Stelle gewesen war. Sie betrachtete den schlafenden Clemens August. Wie sollte sie ihre Söhne vor der Unbill des Lebens schützen, wenn sie nicht einmal im heimischen Park sicher waren? 

Möglicherweise brauchte es eine Umzäunung, damit nicht wieder ein Kind in den Graben fiel. Unter dem Eindruck der Geschehnisse schien ihr das ein wichtigeres Projekt als jede Eisenhütte oder Mühle. Andererseits scheute gebranntes Kind erfahrungsgemäß das Feuer. Womöglich wären die Söhne künftig vorsichtiger. Zumal sicherlich auch der Erzieher und Hauslehrer, den sie in Bälde erwarteten, seinen Beitrag leisten würde.  

Unvermittelt fiel ihr Kopf zur Seite, sie nickte ein. Im Traum tobten alle fünf Kinder auf einem umzäunten Rasen. Ein strenger Herr wachte darüber und hieß die Kleinen, ruhig zu bleiben. Der verflixte Schlossgraben schrumpfte, schien zu zerfließen. Er nahm die schlangenartige Form eines Bachs an, zog sich dann plötzlich gerade wie mit dem Lineal gezogen.

Verwirrt schlug sie die Augen auf. Clemens August schlief und auch nebenan herrschte schläfrige Ruhe. Draußen dämmerte es. Höchste Zeit, sich für das Diner umzukleiden. 

Auf dem Weg zu ihrem Boudoir holte sie ihr Traum wieder ein. Dieser schnurgerade Graben ging ihr nicht aus dem Kopf. Könnte das der Weg sein, das Wasser aus dem Borkebach in die Senke zu leiten und einen Mühlenteich anzulegen? Wer sagt denn, dass man dazu den Bach selbst stauen muss. Warum war sie nicht früher darauf gekommen? Seit Jahrtausenden baute die Menschheit Gräben und Kanäle. Warum also nicht auch in Wocklum? Sie würde Gruber dazu befragen. Am liebsten hätte sie sich sofort ihren Plan angesehen, um zu sehen, wie sich ein Kanal einfügen würde. Doch sie musste sich gedulden und das Ganze auf morgen vertragen. Denn jetzt erwarteten sie ihr Gemahl und ihr Gast.




Wusstest du schon, dass ...

… Anna Maria Theresia von Landsberg mit Franz Casper Ferdinand, Freiherrn von Landsberg zu Erwitte acht Kinder hatte?

… sie 1743 eine Sägemühle am Borkebach errichten ließ?

… sie 1748 den Wocklumer Hammer mit Eisenhütte gründete und den ersten Hochofen in der Grafschaft Mark bauen ließ? Nebenan ließ sie einen Stabhammer einrichten.  

… sie damit als Begründerin des märkischen Hüttenwesens gilt?

… sie tatsächlich Wasser vom Borkebach abzweigte, das sowohl den Hüttenteich als auch den Mühlenteich speiste?

… sie den Umbau von Schloss Wocklum nach dem Tod ihres Mannes 1748 fortsetzte?

… sie den Wocklumer Hammer, die Eisenhütte und einen Stabhammer 1758 an ihren Sohn Clemens August von Landsberg zu Erwitte übergab, der sie kurz darauf in Betrieb nahm?

… die Luisenhütte heute die älteste mit vollständiger Einrichtung erhaltene Hochofenanlage Deutschlands ist?

… sich Wilhelm Christian von der Reck 1741 auf die Suche nach Silbererz machte?

… es zwischen der Familie Landsberg zu Erwitte und Wilhelm Christian von der Reck viel später zu Erbstreitigkeiten um das Stammhaus von Annas Familie kam?




So sah es zu Zeiten Anna von Landsbergs bei uns aus

Auch wenn heute natürlich vieles nicht mehr wie im 18. Jahrhundert ist, hat sich in den Tälern des Orlebachs und des Borkebachs doch einiges aus Annas Welt erhalten. Das Schloss Wocklum gibt es noch, manchmal ist es auch zu besichtigen. Und die von Anna begründete Eisenhütte, zunächst Wocklumer Hammer genannt, wurde später die berühmte Luisenhütte.
Schau dir die Wocklumer Gegend am besten mal selber an


Hinweis

Die Geschichte bedient sich biografischer Details von Anna Maria Theresia Freifrau von Landsberg zu Erwitte, geborene von Recke zu Steinfurt und einiger ihrer Zeitgenossen.

Dennoch sind sie hier Kunstfiguren. Beschreibungen und Handlungen der Figuren sowie Ereignisse und Situationen sind fiktiv.


Literatur

Hinz, Frank-Lothar, Die Geschichte der Wocklumer Eisenhütte 1758-1864 als Beispiel westfälischen adligen Unternehmertums, herausgegeben im Auftrag der Freunde der Burg Altena e.V. im Rahmen der Altenaer Beiträge (Band 12) von Rolf Dieter Kohl, Altena, 1977 

Ralf J. Günter, Schloss Wocklum - Geschichten von Adel, Industrie und Sport, S.56-71, Velen, 2016

Anna Maria Theresia von der Recke, veröffentlicht unter Wikipedia, online verfügbar unter https://de.wikipedia.org/wiki/Anna_Maria_Theresia_von_der_Recke, zuletzt abgerufen am 10. August 2023

Franz Kaspar Ferdinand von Landsberg zu Erwitte, veröffentlicht unter Wikipedia, online verfügbar unter https://de.wikipedia.org/wiki/Franz_Kaspar_Ferdinand_von_Landsberg_zu_Erwitte, zuletzt abgerufen am 10. August 2023

Franz Kaspar Ferdinand von Landsberg zu Erwitte, veröffentlicht im Internet-Portal „Westfälische Geschichte“, online verfügbar unter http://www.westfaelische-geschichte.de/per2936, zuletzt abgerufen am 10. August 2023

Schloss Wocklum, veröffentlicht unter Wikipedia, online verfügbar unter https://de.wikipedia.org/wiki/Schloss_Wocklum, zuletzt abgerufen am 10. August 2023

Gut Stockhausen (Lübbecke), veröffentlicht unter Wikipedia, online verfügbar unter https://de.wikipedia.org/wiki/Gut_Stockhausen_(L%C3%BCbbecke), zuletzt abgerufen am 10. August 2023
 

Text: Sabine Schlüter - Die flotte Feder

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