In der Dechenhöhle wartet ein beeindruckendes Kunstwerk der Natur
Wer sagt, Höhlenexkursionen seien nicht seine Lieblingsbeschäftigung, sollte mal die 400 Meter lange Führung durch die Dechenhöhle ausprobieren. Denn ihr Zauber hat das Potenzial, den Blick auf die Unterwelt zu verändern. Selbst wer die Höhle am Eingang im Osten mit leichter Skepsis betritt, kommt am Ausgang im Westen als Höhlenfan wieder heraus.
Eine schlichte Stahltür im Fels. Dies soll der Eingang zur berühmten Dechenhöhle sein? Schräg unter dem Eisensteg verläuft die Bahnlinie von Letmathe nach Iserlohn, deren Bau zur Entdeckung der Höhle geführt hatte. Gewissermaßen, denn als zwei Eisenbahnarbeiter die Höhle im Juni 1868 fanden, waren sie mit Restarbeiten am Fels beschäftigt. Die Gleise waren längst fertig, die Zuglinie seit 1865 in Betrieb. Zur Sicherung sollte nur noch überstehendes Gestein abgeschlagen werden.
Bevor er die Tür öffnet, zeigt der Höhlenführer und -forscher Dr. Stefan Niggemann, der auch Geschäftsführer der Dechenhöhle ist, entlang der Bahnlinie in Richtung Osten. "An den Gleisen gab es damals mehrere kleine Höhlen“, berichtet er. "Die Gleisbauer und Eisenbahnarbeiter kamen häufig von weit her. Um Miete zu sparen, wohnten sie zum Beispiel in der Pferdestallhöhle."
Eine eigene Welt
Jetzt schließt er die Stahltür auf. Dahinter ist es zunächst düster. Ein Notlicht, eine Taschenlampe. Mit der leuchtet der Höhlenführer nach oben. „Das war der ursprüngliche Zugang“, sagt er. Einige Meter über uns ist eine Luke zu erkennen, daneben ein großer Pfeil auf einem Hinweisschild. „Man erzählt sich, dass einem der Arbeiter ein Hammer in die Spalte fiel“, fährt er fort, „doch ob das tatsächlich stimmt, weiß man nicht.“ Sicher ist, dass sie sich hineinwagten, sich abseilten in diese Höhlung und damit eine der spektakulärsten Entdeckungen jener Zeit machten.
Wie dunkel war es wohl damals, als sie einstiegen, gewappnet mit einer, maximal zwei Fackeln. Ganz im Gegensatz zu jetzt, wo plötzlich Licht aufflammt und unwillkürlich ein „Wow! Eine Kathedrale!“ über die Lippen schlüpft. Vor uns liegt eine hohe Grotte mit langen Stalaktiten (wachsen von oben) und kürzeren Stalagmiten (wachsen von unten).
Sie vermitteln den himmelstürmenden Eindruck einer gotischen Kirche – nur, dass der Himmel hier natürlich fehlt, denn alles verliert sich weit oben in der Höhlendecke. „Eigentlich nennen wir diesen Bereich Kapelle“, merkt Dr. Niggemann an. Mittig erinnern ein paar Stalagmiten sogar an die heilige Familie. Wie beeindruckt müssen erst die Eisenbahnarbeiter gewesen sein?
„Man muss sich die Höhle flacher vorstellen“, fährt er fort. „Am Boden waren Gesteinsbrocken und Sedimente, die dann abgetragen wurden. Schon einen Monat später wurde die Höhle für Besucher geöffnet.“ Zunächst nur provisorisch, doch die Nachfrage war groß. Ganz Iserlohn und Umgebung wollte den Aufsehen erregenden Fund mit eigenen Augen sehen. Daher wurde die Höhle gesichert, mit Stiegen ausgestattet und noch 1868 offiziell als Schauhöhle eröffnet. Die Bahnlinie bekam einen eigenen Haltepunkt. Schon bald reisten die Gäste auch von weiter her an. Der Zauber dieser Unterwelt hatte sich in Windeseile herumgesprochen.
Überraschung folgt auf Überraschung
Es ist nicht leicht, sich vom Anblick der Kapelle zu lösen. Doch schnell stellt sich heraus, dass sie hier drinnen nicht die einzige Attraktion ist. Am Rand des Wegs liegen von Tropfsteinen begrenzte Arkaden bis zur sogenannten Orgel. Schon wieder ein sakrales Bild. Die vielen glitzernden weißen Tropfsteine vermitteln den Eindruck einer Kirchenorgel. Davor eine riesige Hand. Fast meint man, ein Oratorium zu hören. Wer war zuerst da? Stalaktiten oder Orgelpfeifen? Die Frage ist schnell beantwortet: „Die Höhle entstand vor etwa einer Million Jahren“, sagt der Höhlenforscher. Damit dürfte der Fall klar sein.
Der Weg schlängelt sich weiter durchs markante Gestein. „Direkt nach ihrer Entdeckung haben die damals berühmtesten Forscher des Landes diesen Teil der Höhle begutachtet.“ Ernst Heinrich von Dechen, Professor für Bergbaukunde, Geologe und Vorsitzender des Naturhistorischen Vereins der Rheinlande und Westfalens, besuchte die Höhle zweimal. Nach ihm wurde die Höhle benannt.
Johann Carl Fuhlrott, ein bedeutender Naturforscher, erkundete den Höhlenboden länger. Er war auf der Suche nach Beweisen für seine Theorie, dass die im Neandertal gefundenen Knochen von einem eigenen Menschentyp stammen. Er fand zwar keine Belege für menschliche Bewohner, war aber der Erste, der die Höhle erforschte. Hinweise auf menschliches Leben gibt es bis heute nicht. „Hier sind allerdings erst einige Bereiche intensiver erforscht“, merkt Dr. Niggemann an. Immerhin fand man bei viel späteren Grabungen in der Grube vor der Königshalle, die wir soeben passieren, unter vielen weiteren Knochen auch das Skelett eines Höhlenbärenbabys. Es ist heute im angrenzenden Deutschen Höhlenmuseum ausgestellt.
An einer Seitenwand der Königshalle wartet die nächste große Überraschung. An der Decke der Kanzelgrotte hängt unvermittelt ein Gebilde wie ein Kronleuchter. Wieder in glitzerndes Weiß gehüllt, von dem es leise und beständig tropft. Wir verlassen die Kanzelgrotte über eine feste Treppe, die zu einem höher gelegenen Teil der Dechenhöhle führt. Den Kopf etwas einzuziehen, ist hier durchaus angebracht.
Oben treffen wir auf einen weiteren Höhepunkt: In der Nixengrotte schimmert zwischen steinernen Säulen und unter zahllosen Stalaktiten ein entzückendes natürliches Wasserbecken. Selten gab es klareres Wasser zu sehen. Das könnte ein perfektes Plätzchen für Romantiker sein, allerdings ist man hier natürlich nie allein. Lächelnd zeigt der Höhlenführer auf ein kleines Püppchen in der Grotte: Arielle. „Sie war einfach irgendwann da“, schmunzelt er. Und sie stammt garantiert nicht aus einer Grabung.
Über Jahrtausende gewachsen
Vorbei an der dramatisch rot beleuchteten Höllenschlucht geht es wieder einige Stufen hinunter in Richtung Grufthalle und Palmengrotte. Dort steht ein prachtvoller Stalagmit, der über Jahrtausende in die Höhe gewachsen sein muss. Wie ein schlanker Palmenstamm reckt er sich in die Höhe. Die Blätter denkt man sich dazu. Doch tatsächlich ist das Staunen auch dieses Mal noch zu überbieten.
Denn in der Alhambrahalle erwarten uns Stalagmiten und Stalaktiten unterschiedlichster Formen und Größen. Zudem gibt es filigrane Gebilde, die man sich nicht hätte vorstellen können.
Unzählige, übereinander geschichtete kleine terrassenförmige Wasserbecken – nicht größer als anderthalb, zwei Zentimeter – verteilen sich über die ganze Wand. Sie funkelt wie ein riesiger Bergkristall, doch es ist hauptsächlich fließendes und tropfendes Wasser, das im Licht glitzert. „Das sind die Sinterterrassen von Pamukkale in der Türkei im Kleinformat“, erläutert der Höhlenführer. Sinter, aus Wasser auskristallisierte Kalkmineralien, ist der Stoff, aus dem hier die Stein-Kalk-Träume entstanden und weiterhin entstehen.
Kurz darauf durchstreifen wir die Kristallgrotte, an deren Wände sich zahllose zarte Tropfsteine schmiegen. Weiter geht es zur Kaiserhalle, in der nochmals eine von unten nach oben gewachsene Säule zu entdecken ist. Allerdings sicher fünfmal so umfangreich wie die Palme. Mit der hinter der Kaiserhalle liegenden, damals noch tiefen Wolfsschlucht endet jener Teil der Höhle, der 1868 entdeckt und für Besucher erschlossen wurde. Doch die Entdeckungsgeschichte war noch nicht beendet. Denn rund 40 Jahre später kam ein weiterer Höhlenforscher ins Spiel.
Die Höhlenforscher sind immer noch aktiv
Die Rede ist von Dr. Benno Wolf, der zwischen 1909 und 1912 hinter der Wolfsschlucht weitere Gänge fand und erkundete. „Alles war voller Geröll, das später teilweise gesprengt wurde.“ Der Aushub an Steinen und Lehm beim Ausbau der neuen Gänge wurde in die Wolfsschlucht gekippt, bis sie einen ebenen Boden hatte. Einen Eindruck von der Größe dieser Brocken vermittelt der riesige sogenannte Gespenstertisch mitten in der heutigen Halle.
Ende des 20. Jahrhunderts wurden in der Dechenhöhle unter der Leitung von Elmar Hammerschmidt, Höhlenforscher und Pächter der Dechenhöhle, weitere Seitengänge entdeckt. Die Vermessung der Höhle sowie die Forschungen am Gestein und im Boden sind längst nicht abgeschlossen. Sie brauchen Zeit und werden heute unter Dr. Stefan Niggemann weitergeführt. So lange wie die Entstehung der Höhle wird das zwar nicht dauern, aber sicherlich noch einige Jahrzehnte.
Auf einigen der von Dr. Wolf entdeckten Gänge sind wir jetzt unterwegs und noch immer gibt es Neues zu entdecken – auch wenn die größten Stalagmiten und Stalaktiten inzwischen hinter uns liegen.
Kanten, Klüfte und große Gesteinsbrocken prägen jetzt das Bild. Einmal führt der Weg durch einen Tropfsteintunnel. Im Gegensatz zu denen im vorderen Teil der Höhle sind die Tropfsteine jedoch klein und gedrungen. „An was erinnert uns das?“, fragt der Höhlenführer verschmitzt. Das wird an dieser Stelle nicht verraten. Allerdings gibt der Name dieser Passage einen dezenten Hinweis: Gemüsegarten.
Kurz darauf ist der Ausgang der Dechenhöhle erreicht. Schade eigentlich, es hätte gerne noch weitergehen dürfen. Doch es bleibt ein unvergesslicher Eindruck. Der Höhlenführer schließt die Tür ab, wie er es auch bereits mit dem Eingang getan hatte. „Die Dechenhöhle wurde von Anfang an verschlossen“, erzählt er. „Solche Höhlen sind oft geplündert und zerstört worden. Meist wurden Tropfsteine einfach abgeschlagen.“ Wenn man die Tour durch die wunderschöne Dechenhöhle gerade hinter sich hat, erscheint das unvorstellbar. Gerade das Zusammenspiel der unterschiedlichsten in zigtausend Jahren von der Natur geformten Elemente macht eine solche Höhle doch zu einem Kunstwerk. Was für ein Glück, dass die beiden Eisenbahner ihren wiedergefundenen Hammer nicht zerstörerisch nutzten.
Du bist auf den Geschmack gekommen?
Dann schau dir die Dechenhöhle unbedingt live an, denn die Realität stellt jede noch so gute Beschreibung in den Schatten. Über zigtausende Jahre hat die Natur hier einen Ort geschaffen, wie der Mensch ihn schöner nicht anlegen könnte.
Unser Tipp: Schau sie dir auf jeden Fall in ihrer natürlichen Pracht an und freu dich auf die Erzählungen deines Höhlenführers, der sich in der Dechenhöhle bestens auskennt und dich durch die 904 Meter lange Schauhöhle führt. Er wird dir z.B. zeigen, wo sich die Schichten des Berges verschoben haben und woher überhaupt das Wasser kommt, das die traumhaft schönen Gebilde in der Höhle formte und immer noch formt.
Das Deutsche Höhlenmuseum Iserlohn
Deutschlands größtes Höhlenmuseum liegt unmittelbar an der Bahnstation Letmathe-Dechenhöhle. Hier kannst du herausfinden, wie Höhlen entstehen und wie Höhlenforscher vorgehen, um ihnen ihre Geheimnisse zu entlocken. Du erfährst, wo in und um Iserlohn weitere Höhlen entdeckt wurden.
Außerdem kannst du dir ansehen, was die Forscher bis heute in der Dechenhöhle gefunden haben – fossile Knochen von Urzeittieren wie Mammut und Waldnashorn oder das komplette Skelett eines Höhlenbärenbabys zum Beispiel.
Wusstest du schon, dass ...
… die Gänge in der Dechenhöhle über 900 Meter lang sind?
… du auf einer Höhlenführung die schönsten 400 Meter kennenlernst?
… die Höhle immer noch vermessen und erforscht wird?
… die Dechenhöhle während der Höhlenlichter jeden März bunt ausgeleuchtet wird?
… die Höhle im Zweiten Weltkrieg teilweise als Luftschutzraum genutzt wurde?
… ein englisches Museum die Palme 1912 für 60.000 Goldmark kaufen wollte?
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Literatur
Text: Sabine Schlüter - Die flotte Feder