Auf den Mattenschanzen in Meinerzhagen lernen Skispringer fliegen
Seit bald 100 Jahren prägen Skischanzen das Bild im Südosten von Meinerzhagen. In der Anfangszeit, als Skifahren, Langlauf und Rodeln hier ebenfalls noch in den Kinderschuhen steckten, waren sie wesentlich kleiner. Doch mit dem Aufschwung, den der Wintersport bis in die 1960er Jahre in Meinerzhagen nahm, wuchsen auch die Schanzen. Heute sind die Mattenschanzen ein etablierter Wintersportplatz und offizielle Trainingsschanzen des Deutschen Ski-Verbands (DSV). Neben 15 aktiven Athleten trainieren hier Nachwuchsspringerinnen und -springer des Ski-Klubs Meinerzhagen. Und noch immer finden auf den Schanzen Wettbewerbe statt.
8. Oktober 2023, 16 Grad Celsius, der Himmel ist bedeckt, manchmal lässt sich die Sonne blicken. Die Teilnehmer an der 41. Nordwestdeutschen Mattenschanzentour haben Glück: Das Wetter ist perfekt zum Skispringen. Ohne Schnee? Ohne Schnee. Was für nicht Eingeweihte erst einmal ungewöhnlich klingt, ist für die teilnehmenden Skispringerinnen und Skispringer völlig normal. Schließlich wird in diesem Sport das ganze Jahr trainiert. Und Sprungschanzen wie die Meinhardus Mattenschanzen vom Ski-Klub Meinerzhagen bieten diese Möglichkeit. Man landet im Frühjahr, Sommer und Herbst auf robusten Kunststoffmatten.
Drei Schanzen unterschiedlicher Größe erwarten die Springerinnen und Springer an diesem Tag beim Finale in Meinerzhagen: K 12 mit einer Sprungweite von 12 Metern für die Jüngsten zwischen 7 oder 8 und 10 Jahren, K 37 mit 35 Metern für Jungen und Mädchen bis 13 Jahren und K 62 mit 60 Metern für Jugendliche und Erwachsene. Die Meinhardus Mattenschanzen sind der sechste Stopp der Tour. Hier wird das diesjährige Finale ausgetragen. Die jeweilige Startposition richtet sich nach dem Gesamtergebnis der Sprünge aus Rückershausen, Willingen, Braunlage, Wernigerode und Winterberg.
Mitten im Grünen erheben sich die nebeneinander liegenden Schanzen. Am beeindruckendsten natürlich die K 62, man muss den Kopf in den Nacken legen, um die ermessen, wie weit oben die Startplattform liegt. Doch selbst die K 12 ist größer, als sie von Ferne wirkt. Wer springen will, braucht auch Kondition, um die Türme für jeden Sprung über Pfade auf der Wiese und/oder Eisenleitern zu erklimmen. Immer mit den Skiern auf der Schulter.
Die Stimmung rund um die Schanzen ist aufgekratzt. Sportlerinnen und Sportler haben Fanclubs mitgebracht, meist ihre Familien. Entsprechend werden alle Sprünge bejubelt. Und – ganz ehrlich – allein der Mut, die Schanzen hinabzusausen, abzuheben und zu landen verdient Dauerapplaus. Eine milde Ahnung von der Höhe der Schanzen verschafft der Blick vom Aussichtsturm, der sich zwischen der K 35 und der K 62 erhebt. Aber eben nur eine Ahnung. Der Blick von der Startplattform der höchsten Schanze herunter, das zeigen Fotos, macht jeden 10-Meter-Turm im Schwimmbad zum Kinkerlitzchen.
1912 – Der erste Sprunghügel
Blick zurück auf die Anfänge: Der Winter-Sport-Club Meinerzhagen, Vorläufer des Ski-Klubs, besteht seit Februar 1911 und geht tatkräftig zu Werke. Angetreten, um „die Freude und das Interesse an der winterlichen Natur unter Jung und Alt wachzuhalten und neu zu beleben“, baut der Verein in seinem ersten Jahr eine Rodelbahn. Die Anzahl der Mitglieder wächst schnell. Ende 1911 ist der Verein damit beschäftigt, mehrere Skiwege rund um Meinerzhagen und Valbert anzulegen. Verschiedene Ortsgruppen des Skiklubs Sauerland melden sofort ihr Interesse an, sie zu Trainingszwecken zu nutzen.
Der Winter-Sport-Club erkennt die Möglichkeiten, Meinerzhagen weithin bekannt zu machen. Er richtet eine Art Telefon-Service ein, über den er die wichtigsten westdeutschen Tageszeitungen über die aktuellen Schneehöhen informiert. Das erste Sportfest im Februar 1912 wird zum großen Erfolg. Wintersportfreunde reisen aus Orten der näheren und weiteren Umgebung an – Gummersbach, Hagen, Lüdenscheid, Olpe und Wipperfürth.
All das ist keine Selbstverständlichkeit, denn Wintersport ist in diesen Breiten noch längst nicht etabliert. Im Gegenteil treffen die Aktivitäten des Vereins vor Ort durchaus auch auf Skepsis und Spott. Doch nach der positiven überregionalen Resonanz von sportlichen Schneefans legt der Winter-Sport-Club Meinerzhagen im Sommer 1912 einen ersten Sprunghügel an und erweitert die Rodelbahn. Die Beitritte geben dem Verein recht: Mittlerweile kommen die Mitgliedsanträge aus ganz unerwarteten Gegenden: aus Berlin oder Freiburg zum Beispiel.
Und so wird 1913 ein weiteres gutes Jahr für den Verein, auch das Wintersportfest im Februar 1914 wird noch ein Erfolg. Doch dann ändern sich die Zeiten: Im Sommer bricht der Erste Weltkrieg aus. Erst im Februar 1919 finden sich die Mitglieder erneut zusammen und stehen wieder ganz am Anfang: Rodelbahn, Skistrecken und eine erste Sprungschanze werden neu angelegt.
1925 – Das erste Schanzenspringen
Doch Inflation und Nachkriegszeit sind keine guten Voraussetzungen, an die erfolgreiche Zeit anzuknüpfen. Erst ab 1924 geht es unter einem neuen Vorstand für den Verein wieder aufwärts. Anfang Dezember findet auf einer neu errichteten Schanze vor großem Publikum das erste Springen statt, bei dem die westdeutsche Elite des Sports antritt.
Regionale Zeitungen und die Fachpresse sind voll des Lobes und erheben Meinerzhagen zum lohnenden Wintersportplatz, der weniger überlaufen sei, als das sogenannte hohe Sauerland. Gelobt werden neben den unberührten Pisten vor allem die Möglichkeiten für Tourenläufer und – dank einer neuen Übungsschanze für Anfänger und der neuen Schanze – auch für Skispringer.
Einige Jahre später, 1931, schafft Meinerzhagen den Sprung in die erste Reihe der Wintersportorte des Mittelgebirges. Der entscheidende Faktor ist die 35-Meter-Schanze, die den Vorgaben des Deutschen Ski-Verbands (DSV) entspricht. Sogar der damalige Deutsche Meister im Skispringen, Erich Recknagel, springt in Meinerzhagen – und lockt eine Menge an Zuschauern, die selbst die in den Orten des Hochsauerlands deutlich übertrifft. Daneben zeigen auch die Meinerzhagener Sportler des Vereins zunehmend Erfolge: Mehrere Springer nehmen an Deutschen Meisterschaften und internationalen Wettbewerben teil und erreichen gute Platzierungen. Im Lang- und Geländelauf etablieren sich Sportler aus Meinerzhagen ebenfalls.
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933 endet die Vereinsarbeit des Winter-Sport-Clubs Meinerzhagen in der bisherigen Form. Mehr als zwölf Jahre dauert es, bis die Mitglieder Ende 1945 wieder zusammentreten und einen neuen Vorstand wählen. Nicht nur der Verein muss sich neu erfinden und gründen. Nach dem Krieg ist vieles zerstört und verfallen, darunter die Wintersportanlagen in Meinerzhagen.
1957 – Die große Schanze entsteht
Auch in dieser Nachkriegszeit fehlen Baumaterialien und Gelder. Und so baut der Verein, jetzt unter dem Namen Ski-Klub Meinerzhagen, die Sprungschanze in Etappen neu und stellt die restlichen Anlagen bis 1949 fertig. Parallel gründet sich 1948 auch der Skiklub Sauerland neu und veranstaltet erstmals wieder verbandsinterne Wettkämpfe – mit Meinerzhagen als Gastgeber. Da die Schneelage in den anschließenden Jahren nicht optimal ist, verzögert sich der Aufschwung des Wintersports noch etwas. Doch ab 1951/1952 ändert sich dies und die Deutsche Bahn beginnt sogar, Sonderzüge nach Meinerzhagen einzusetzen.
Die Anzahl der Wintergäste wächst bis 1955 kontinuierlich und stark. Im gleichen Jahr entsteht der Wunsch nach einer weiteren, noch größeren Schanze. Einerseits, um dem Skisprung-Nachwuchs ideale Voraussetzungen zu bieten und andererseits, um die Position als Wintersportort zu festigen. Zwei Jahre dauert es, bis alle Rahmenbedingungen geklärt und alle Hindernisse aus dem Weg geräumt sind. So ist beispielsweise ein öffentlicher Weg durch die Schanze mit ihrem 35 Meter hohen Anlaufgerüst überbaut. Bis zur Eröffnung vergeht ein weiteres Jahr, weil ausgerechnet der Winter 1957 schneearm bleibt. Doch 1958 ist es vollbracht, Meinerzhagens dritte Schanze – mit Holzkonstruktion – ist in Betrieb.
1964 – Mit K 60 an die Spitze
Doch die Entwicklung bleibt nicht stehen. 1962 baut der Verein die kleine Schanze als ganzjährig nutzbare Mattenschanze mit 30 Metern Sprungweite (K 30) neu. Die Einweihung ist ein großes Event, an dem auch die deutsche Skispringer-Nationalmannschaft teilnimmt. Bereits zwei Jahre später setzt sich Meinerzhagen an die Spitze der Wintersportplätze der Bundesrepublik: Der Ort eröffnet die zu jener Zeit größte Mattenschanze mit 60 Metern Sprungweite (K 60) der Bundesrepublik. Bis 1976 wird sie u.a. für internationale Mattensprung-Wettbewerbe genutzt. Doch dann ändert die Fédération Internationale de Ski (FIS) ihre Normen und wieder müssen Entscheidungen getroffen werden.
Der nächste Neubau entsteht und wird 1982 eröffnet. Die Mattenschanze hat ein neues Profil und einen Turm mit Stahlanlauf. Neben dem Ski-Klub Meinerzhagen nutzen sie z.B. der DSV und zwischenzeitlich auch die niederländische Nationalmannschaft. Veränderungen bleiben die Regel: 2002 erhält die größte Schanze neue Matten sowie weitere Anpassungen an Anforderungen der FIS. Jahrelang finden hier internationale Damen-Springen statt. Die mittlere Schanze (K 37) wird 2007 abgerissen und mit Stahlkonstruktion wieder aufgebaut. Seine jüngsten Modernisierungen nimmt der Verein 2012 und 2013 am Aufsprung-Hang und am Auslauf der mittleren K 37- und der kleinen K 12-Schanze vor. So bleiben die Meinhardus Mattenschanzen auf dem neuesten Stand für verschiedenste Wettbewerbe von Frühling bis Herbst.
Zurück im Jahr 2023
Die Springen auf den Meinhardus Mattenschanzen laufen, sie werden den ganzen Tag dauern. Ein Tag ist im Oktober zwar nicht besonders lang, aber für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus allen Altersgruppen vergeht die Zeit so oder so wie im Flug. Alle sausen ohne zu zögern den Anlauf hinab und springen vom Schanzentisch ab. Von Kindesbeinen an haben sie es gelernt. Die kleinen, die nicht mehr kleinen und die großen Sportlerinnen und Sportler – erst auf einer kleinen, dann auf einer mittleren und dann auf einer großen Schanze.
Für sie ist Meinerzhagen bis heute ein attraktiver Wintersportplatz. Im Frühling, Sommer und Herbst. Allerdings nicht im Winter. Denn der Schnee reicht inzwischen nicht mehr aus, um die Schanzen zu präparieren. Doch wenn es schneit, dann gibt es rundum noch immer den einen oder anderen Hang zum Rodeln oder zum Skifahren. Und wenn sehr viel Schnee fällt, auch Möglichkeiten zum Langlauf.
Wusstest du schon, dass ...
… sich Meinerzhagen vom frühen 20. Jahrhundert bis in die 1960er Jahre zu einem Wintersportort entwickelte, der viele Gäste von Rhein und Ruhr hatte?
… Skisprung in dieser Zeit eine zentrale Attraktion des Ortes war?
… es am Ortsrand schon 1912 einen ersten Sprunghügel gab, auf dem Wettbewerbe ausgetragen wurden?
… 1925 eine Schanze für Wettbewerbe entstand, die bis in die 1930er Jahre zahlreiche Zuschauer anzogen?
… beide Schanzen nach dem Zweiten Weltkrieg erneuert und wieder in Betrieb genommen wurden?
… die große Meinhardus-Schanze auf einen Bau von 1957 zurückgeht (K 50 / Sprungweite 50 Meter), der 1964 auf erweitert wurde (K 60 / Sprungweite 60 Meter). Und die Schanze zuletzt im Jahr 2002 an die aktuellen Anforderungen der Fédération Internationale de Ski (FIS) angepasst wurde?
… der Ski-Klub Meinerzhagen heute drei Schanzen betreibt (K 62, K 37 und K 12), die ausschließlich im Frühjahr, Sommer und Herbst als Mattenschanzen in Betrieb sind, weil die Schneemengen im Winter nicht mehr ausreichen?
… die drei Schanzen ausschließlich für offizielle Trainingseinheiten genutzt werden und dort bis heute Wettbewerbe stattfinden?
… heute rund 15 aktive Athleten und regionale Wintersportclubs das Angebot zum Skispringen nutzen? Und der Ski-Klub Meinerzhagen, dem die Schanzen gehören, außerdem intensive Nachwuchsförderung im Skispringen betreibt?
Du hast Lust auf Wintersport im Märkischen Sauerland?
Auf den Meinhardus Mattenschanzen trainieren heute die Mitglieder, insbesondere der Nachwuchs des Ski-Klubs Meinerzhagen sowie weitere regionalen Vereine. In und um Meinerzhagen kannst du – Schneefälle vorausgesetzt – noch heute Wintersport betreiben. So laden einige Hänge in schneereichen Wintern zum Rodeln ein. Zudem kannst du dich in der Gegend von Meinerzhagen an einigen Stellen auf die Bretter begeben:
Günther Brune, Wie Meinerzhagen Wintersportplatz wurde, in Meinerzhagen – Luftkurort und Wintersportplatz im Sauerland, herausgegeben aus Anlass der Fertigstellung der neuen Meinhardus-Schanze, S. 11-31, Meinerzhagen, 1957
Ski-Klub Meinerzhagen, Geschichte unter: https://skiklub-meinerzhagen.de/verein/ueber-uns/, zuletzt abgerufen am 12. November 2023
Skisprungschanzen-Archiv, Meinerzhagen, unter: https://www.skisprungschanzen.com/DE/Schanzen/GER-Deutschland/NW-Nordrhein-Westfalen/Meinerzhagen/1021/.htm, zuletzt abgerufen am 12. November 2023
'Text: Sabine Schlüter – Die flotte Feder